Nachkriegskinder
war herrschsüchtig und warmherzig zugleich, Letzteres vererbte er seiner Tochter, Manfred Holdts Mutter. Ohne ihn hätte der kleine Manfred nichts zu lachen gehabt oder zumindest wenig. Dass er heute weiß, was Lebensgenuss bedeutet, verdankt er vermutlich diesem Großvater. Allerdings räumt der Enkel ein, dass er lange Zeit nicht in der Lage war, sein Erbe anzutreten, weil er zu sehr mit seiner eigenen, belasteten Situation beschäftigt gewesen sei. Dazu fällt ihm ein Erlebnis ein: »Während einer Exkursion im Studium fiel einer Kommilitonin auf, dass ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich nach dem Essen noch ein Eis wollte oder nicht. Sie meinte: Sag doch einfach, was du willst. Aber ich hätte nicht sagen können, ob ich ein Eis will oder nicht. Ich habe mich damals selber kaum gespürt. Ich kannte meine Wünsche nicht. Außer diesem einem Bedürfnis: Die Vermeidung von Fremdbestimmung. Ich war nie gern Kind, weil ich mich ständig fremdbestimmt gefühlt habe.«
Endlich frei sein!
Jahrzehntelang war es sein größter Wunsch gewesen, frei zu sein, sich von niemandem mehr etwas aufzwingen zu lassen. Das hat auch seine Beziehungen zu Frauen beherrscht. Nur einmal hat er mit einer Freundin zusammengewohnt, drei Jahre lang. Aber er empfand zu wenig Freiraum, zu viel Kontrolle. Er habe nicht mehr telefonieren dürfen, mit wem er wollte, erläutert er mir, Kontakte jenseits des gemeinsamen Umfeldes seien auf Unverständnis, Misstrauen und Eifersucht gestoßen.
Seitdem verspürt er keinen Wunsch mehr nach Zusammenleben. Ohne Freundin ist er nicht, sie lebt über 600 Kilometer entfernt. Manfred Holdt sieht sich nicht als Eigenbrötler – der Begriff wäre ihm zu negativ – sondern einfach als jemanden, der viel Zeit für sich allein braucht. Vielleicht, schiebt er ein, habe sein Vater ja genauso empfunden – wenn er es bedenke, erschienen ihm dessen Fluchten in einem anderen Licht. Viele Menschen, |125| viel Kommunikation, sagt Manfred Holdt, ertrage er nur sehr begrenzt. Wenn er zwei Abende hintereinander außer Haus ist, muss er am folgenden Abend wieder allein sein, andernfalls befürchtet er, sich zu verlieren – nicht mehr zu spüren, wer er ist. Zu Hause schreibt er viel Tagebuch, es hilft ihm, den Kreisel im Kopf zu unterbrechen und seine Gedanken zu ordnen. »Dieses ›bei mir sein‹, das gelingt mir nur allein oder mit sehr vertrauten Personen«, bekennt er. »Meine Geschwister haben Familie, aber für mich ist das nichts. Vielleicht wäre ich ein Vater geworden wie mein Vater einer war, einer, unter dem die Kinder leiden.«
Er hat begonnen Cello zu spielen, das Üben erfordert viel Zeit und eine Umgebung des Ungestörtseins. Er sagt: »Das intensivste Gefühl, bei mir zu sein, habe ich, wenn ich allein bin. Das ist der Grund warum ich gern allein bin. Ich genieße auch das Reisen in Zügen, vorausgesetzt, sie sind nicht zu voll. Ein schöner Zustand, nicht mehr da, wo ich herkomme, und noch nicht dort, wo ich hinfahre, sondern ganz bei mir und gleichzeitig unterwegs.«
Ich frage ihn, wann die beste Zeit in seinem Leben gewesen sei, und er antwortet ohne zu zögern: »Jetzt!« Das könne ich vielleicht nicht verstehen, weil er auf Hartz IV angewiesen sei, meint er, aber Freiheit sei ihm eben wichtiger als Status und Geldknappheit. Er werde eine kleine Rente aus seiner Zeit als Architekt bekommen. Im Notfall spende er Blut, dafür bekomme er 50 Euro. Er lebe auf 38 Quadratmetern in einem ausgebauten Dachgeschoss und noch nie, fügt er hinzu, habe er sich in einer Wohnung so wohl gefühlt.
In den vergangenen Jahren hat sich seinem großen Bedürfnis nach Freiraum ein weiteres hinzugesellt. »Meine zentrale Frage war: Warum kann ich nicht so sein, wie ich bin«, schickt er voraus. »Denn ich spüre in mir eine Heiterkeit, die nie so richtig rauskommen konnte. Da ist ein großes Bedürfnis nach einer Leichtigkeit in mir, wie sie in meiner Familie nicht vorkam.« – Fällt mir sofort der Opa ein. Vielleicht, schlage ich Manfred Holdt vor, sei ja in punkto Lebenslust beim Großvater noch mehr zu erben.
|126| Der Typ unvitaler Vater
Bei Manfred Holdts ständig erschöpftem Vater handelte es sich offenbar nicht um eine Ausnahmeerscheinung. In dem Buch »Ich wußte nie, was mit Vater ist« des Psychoanalytikers Wolfgang Schmidbauer ist der Typus des unvitalen Familienoberhaupts in der Nachkriegszeit beschrieben: »Der Vater ist nur ruhebedürftig, ihm ist alles zuviel, er liegt auf dem Sofa, ist krank,
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