Nachkriegskinder
nichts, aber immer wieder redete der Vater von den Schafen in Russland, Schafe mit |133| breiten Schwänzen, »wie Butterpakete«. So etwas prägt sich tief ein in Menschen, für die jahrelang der Hunger der schlimmste Feind war. Doch man darf sich Karl-Ernst Pahle nicht als Russenhasser vorstellen, er sah sich im Kalten Krieg auch nicht von der Sowjetunion bedroht. Eines stand für ihn unzweifelhaft fest: »Meine Söhne gehen nicht zum Militär!«
An einem Herbsttag im Jahr 1969 kam der Vater nicht mehr nach Hause. Zunächst machte sich die Familie keine Sorgen. Man dachte, man müsse einfach nur warten. Schon mehrmals war er ohne Erklärung verschwunden, er war nach drei Tagen oder einer Woche heimgekehrt und hatte so getan, als sei nichts gewesen. So wartete seine Familie auch diesmal einigermaßen gefasst. Später stellte sich heraus: Karl-Ernst Pahle hatte am Morgen des Tages, als er zum letzten Mal gesehen wurde, eine heftige Auseinandersetzung mit seinem Vorgesetzten gehabt. Angeblich attackierte er den Chef mit einem Stuhl – andere Mitarbeiter konnten ihn zurückhalten und Schlimmeres verhindern. Man rief seinen Hausarzt herbei. Der gab ihm eine Beruhigungsspritze und meinte: »Herr Pahle, so geht das nicht weiter. Sie müssen mal richtig raus …« Reinhards Vater war klar, was der Doktor damit meinte: Er wollte ihn ins »Irrenhaus« schicken.
Die große Angst vor dem »Irrenhaus«
»Von Psychiatrie sprach ja damals noch keiner«, erklärt sein Sohn. »Das Irrenhaus war ein gesellschaftlicher Makel, mit dem er nicht leben konnte.« Er vermutet, der Vater habe sich noch am selben Tag erhängt. Drei Wochen später wurde er im Wald gefunden. Wie er als 15-Jähriger auf den Suizid des Vaters reagierte? Er weiß es nicht mehr. An heftiges Weinen kann er sich nicht erinnern, sondern nur, mit welchen Worten er seine Mutter zu unterstützen versuchte: »Wir dürfen jetzt nicht traurig sein.«
Karl-Ernst Pahle muss schon sehr lange ernsthaft an Suizid gedacht haben. Sein Satz »Ich häng mich noch mal auf!« war kein |134| Gerede gewesen. Rückblickend kam seine Familie zu der Einschätzung, er habe nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. »Papa hat alles Finanzielle genau durchgerechnet, und erst, als er sah, es würde uns an nichts fehlen, hat er sich das Leben genommen«, meint sein Sohn. Den Hausbau hatte sich die Familie quasi vom Munde abgespart und war dabei, wenn auch manchmal murrend, ganz und gar Vaters rigiden Vorgaben gefolgt. Die Mutter hatte ihm jeden Pfennig ihrer Haushaltsausgaben vorrechnen müssen. Doch nach seinem Tod profitierten sie alle von seinem Geschick im Umgang mit Geld. Die Mutter bekam eine gute Witwenrente, der Hausbesitz war durch Bausparverträge mit überschaubaren Raten abgesichert und auch für die Ausbildung der Kinder war gesorgt.
Aber Reinhard Pahle glaubt, seine Mutter sei nach dem Suizid noch zehn Jahre in Trauer erstarrt gewesen. Bei jeder Gelegenheit wiederholte die Witwe den Satz: »Es könnte so schön sein, wenn Papa noch leben würde«. An seinem Selbstmord, sagte sie, seien seine schwachen Nerven Schuld gewesen, und sie blieb bei dem Vorwurf, man habe auf seiner Arbeitsstelle nicht genug Rücksicht auf ihn genommen. Sie stellte ihren Mann auf ein Podest, niemand kam an ihn heran. Auch Reinhard bewunderte seinen »großen Vater«, ohne dass er hätte sagen können, wofür. Aber es fragte ihn auch niemand danach.
Nach dem Abitur beschloss er, Lehrer zu werden. Während seiner Studentenzeit engagierte er sich in Bürgerinitiativen, die Proteste richteten sich vor allem gegen die Atomkraftwerke. Als junger Mann sei er immer noch sehr verunsichert gewesen, beschreibt sich Reinhard Pahle, aber zum Glück habe das Studium der Erziehungswissenschaften etwas Befreiendes gehabt, denn dort sei er mit einem anderen Menschenbild vertraut gemacht worden. Während seiner Praktika an Schulen merkte er, wie gern er mit Kindern zusammen war. Ihm stand ein Mentor zur Seite, ein Professor, der die Ansicht vertrat: »Genuss gehört zum Leben dazu«. Bei ihm waren es keine leeren Worte, er feierte gern und häufig mit seinen Studenten.
|135| Einen Ersatzvater würde Reinhard Pahle ihn heute nicht nennen, aber jemanden, der ihm Orientierung gab, der ihm den Rücken stärkte, der seine pädagogische Begabung erfasste und förderte. In den Augen des Professors war Reinhard zum Lehrer geradezu berufen, und er versicherte ihm, seine künftigen Schüler seien zu beneiden. Zum ersten Mal
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