Nachkriegskinder
Fürsorge und den vielen guten Absichten seiner Eltern aus, sagt er, müsste er eine glückliche Kindheit gehabt haben. Aber er erinnere sich an völlig entgegengesetzte Gefühle. Irgendetwas sei da noch gewesen, mehr als nur die Armut, die vielen Konflikte der Eltern und ihr persönliches Unglück. Die Nachkriegswohnung von 1951, die seine Eltern nie mehr verließen, war für ihn kein Zuhause. Geborgenheit empfand er dort nicht. Schon früh begann er, sich nur auf sich selbst zu verlassen. »Schon immer habe ich gedacht: Ich will da weg!«, erzählt er. In der Pubertät wuchs sein Freiheitsdrang in dem Maß, wie er sich emotional von seiner Familie entfernte. Mit 14 Jahren ließ er sich kaum noch etwas sagen. Mochte der Vater noch so oft drohen, »Du kommst in ein Heim« – Michael wusste, es war heiße Luft. Er ließ die Beschimpfungen einfach an sich abtropfen, denn mit der Zeit hatte er »autarke und ein wenig autistische Tendenzen« entwickelt, wie eine für ihn typische Selbstanalyse lautet.
Eigenes Geld war ihm wichtig. Während seiner Schulzeit jobbte er. Im Hamburger Hafen wurde nächtliches Kistenschleppen |161| gut bezahlt. Davon kaufte er sich eine teure Stereoanlage und Bücher. Der Satz »Du sollst es einmal besser haben«, der ihn als Kind verunsichert hatte, weil er darin einen Anspruch spürte, dem er nie würde genügen können, war nun Ansporn und Rechtfertigung zugleich. Ein schlechtes Gewissen ließ er sich nicht mehr einreden, auch in der Schule nicht – das war entscheidend, andernfalls hätte man ihm womöglich dort das Rückgrat gebrochen. Sein Hamburger Gymnasium beschreibt er heute mit drastischen Worten: »Die ganze Schule stank nach Selbstgefälligkeit, autoritärem Verhalten und Sadismus. Und es roch wirklich in diesem Schulgebäude, ein eigenartiger Geruch, wenn nicht gar Gestank, eine Mischung aus Bohnerwachs und Angstschweiß durchströmte alle Räume.« 20 Michael, gerade der väterlichen Aufsicht und Bevormundung entronnen, fand sich als Oberschüler in einem totalitären System wieder. Aber er war nicht mehr allein.
Die Jugendrebellion, die später unter dem Begriff »1968« legendär wurde, streckte schon ab Mitte der sechziger Jahre ihre bunten Fühler nach Jugendlichen aus, die ihre autoritären Lehrer wie ihre autoritären Eltern satt hatten. Die Zeit war reif für Sex, Drugs and Rock’n Roll. Wie ein Flächenbrand breitete die neue Musik sich aus: Beatles, Rolling Stones, The Who, Kinks, Dave Dee, Doors, Herman’s Hermits, Hollies, Mamas and Papas, und wie sie alle hießen. Das Neue war, dass sich nun Gruppen und nicht nur Einzelne einen Namen machten. Ihre Botschaft: Gemeinsam sind wir stark. Die Rock- und Pop-Gruppen verbreiteten Unbekümmertheit. Sie versorgten die westliche Jugend mit einem Wir-Gefühl, es schwappte hinüber auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs, wirkte ansteckend, veränderte die Musik in der DDR. Auch dort verhalf sie den Jugendlichen zu einer eigenen Kultur, die subversivste Kraft überhaupt, vor der irgendwann selbst die SED kapitulierte.
Die neuen Songs der sechziger Jahre hatten die Macht, Millionen junge Menschen miteinander zu verbinden, die vor allem eines wollten: nicht so werden wie ihre Eltern. »Die Musik war |162| innovativ, lebendig und aufrührerisch«, erzählt Michael Brenner. »Sie führte uns in einen unglaublichen Reichtum an Gedanken und Gefühlen. Ich erinnere diese Zeit wie einen Quantensprung.« Wie weggefegt war die bleierne Zeit, als man mit der Familie auf der Couch saß, Salzstangen knabberte und sich im Fernsehen Sendungen wie »Mainz wie es singt und lacht« ansah.
Bob Dylan und Joan Baez
Als Schüler faszinierte Brenner die Poesie eines Bob Dylan, einer Joan Baez. Er hörte sich ihre Liedertexte genau an – sie sangen von der Sehnsucht nach einer anderen, einer neuen Gesellschaft. Mit 17 Jahren wurde er Mitglied einer sozialistischen Basisgruppe, wo man versuchte, die Revolution auf Flugblättern herbeizurufen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Brenner schon weit von seiner Familie entfernt. Weihnachten verbrachte er nicht mehr zu Hause, Goodbye Tannenbaum, er war lieber mit seinen Freunden unterwegs. Der Kontakt zu Vater, Mutter und Schwester beschränkte sich auf das Notwendigste.
Dann der Tod des Berliner Studenten Benno Ohnesorg. Der Schüler Michael trat in eine neue Phase ein, er wurde Demonstrant. Nach den Schüssen auf Rudi Dutschke schloss er sich spontan denen an, die meinten, die Auslieferung der
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