Nachkriegskinder
Frau an seiner Seite. Sie trägt elegante Kleidung, einen taillierten Mantel mit Pelzbesatz, einen riesigen Hut. Arm in Arm gehen sie über einen Brüsseler Boulevard. Sie sind ein Paar, ein vertrautes Paar, gut situiert, auf der Höhe der Zeit.
Karl Brenner war einmal ein ganz anderer gewesen, ein stolzer, selbstbewusster Mann. »Mich berührt dieses Foto sehr«, sagt sein Sohn. So kannte er seinen Vater nicht, mit diesem Körperausdruck von Zufriedenheit und Glück. Es besteht für ihn kein Zweifel: »Mein Vater hat mehrere Jahre in Brüssel mit Frau und Kind gelebt, er hatte schon eine Familie, bevor es meine Mutter, meine Schwester und mich in seinem Leben gab. Wir, die Nachkriegsfamilie, waren nie ein adäquater Ersatz.«
Mag sein, dass der kleine Junge auf den anderen Fotos sein Halbbruder ist, vielleicht war er allein Yvonnes Kind. Michael Brenner wird es nicht mehr klären. Aber anderes fügt sich nun zusammen. Aus Briefen und handschriftlichen Notizen geht hervor, dass der Vater 1961 in Brüssel war. Michael Brenner erinnert sich sogar an diese Reise. Anlass war ein Spiel des Hamburger Sportvereins, ein damals legendäres Fußballereignis im Europacup. Der Zehnjährige verstand nicht, warum der Vater ihn nicht mitnahm, denn üblicherweise durfte er den Vater zu allen wichtigen Fußballspielen begleiten.
Im Nachlass befand sich ein Brief von Louis, Yvonnes Sohn, eine Reaktion auf Karl Brenners Besuch in Brüssel 1961. Louis schrieb an Stelle seiner Mutter, die kein Französisch konnte, denn offenbar war sie Flämin. Mehr erfahren wir nicht über die Beziehung |168| zwischen Karl und Yvonne. Alles andere sind Interpretationen und Spekulationen.
Auf einem vergilbten Zettel entdeckte Michael Brenner eine Brüsseler Anschrift, daher glaubt er zu wissen, wo Karl und Yvonne im Krieg wohnten. Vor drei Jahren ist er dem nachgegangen. Er findet das Haus als Teil einer Häuserzeile aus den zwanziger Jahren. Die Nr. 114 ist ein Eckgebäude. Nebenan ein heruntergekommenes 2-Sterne-Hotel. Michael Brenner quartiert sich für eine Nacht ein. »Erst als ich nachts im Bett liege, wird mir richtig bewusst, dass einige Meter weiter hinter den Wänden mein Vater gelebt hat«, schreibt er in seinen Erinnerungen. »Es ist eine seltsame Nacht, denn ein wenig beherrscht mich dieses Gefühl, als tue ich etwas fürchterlich Verbotenes, aber nie habe ich mich meinem Vater so nahe gefühlt wie in diesen Stunden.« 23
Wie viel muss man über seinen eigenen Vater wissen, bis man weiß, wer er war? »Bis vor kurzem habe ich nicht einmal gewusst, dass mein Vater Französisch sprach«, sagt Michael Brenner. »Wenn ich mir die Fotos anschaue, dann denke ich: Mein Vater hat es nicht verwunden, diese Frau und das Kind zu verlieren. Das gute Leben war vorbei. Mit 30 wurde seine Lebensuhr auf Null zurückgestellt: Jetzt fährst du nach Hause. Jetzt bist du der Verlierer.« Mit seinem heutigen Kenntnisstand, erklärt der Sohn, könne er Karls lebenslange Wut auf ihr armseliges Leben in Hamburg-Horn besser verstehen. Die Mutter, ein ehemaliges Kriegskind und selbst von den Spätfolgen beeinträchtigt, war zu schwach, um ihrem fast zwanzig Jahre älteren Ehemann Grenzen zu setzen.
Das Sterben vor dem biologischen Tod
Anfang der fünfziger Jahre erlitt er seinen ersten Herzinfarkt, dem drei weitere folgten. Alle Risikofaktoren trafen auf den Patienten zu: Rauchen, Alkohol, Übergewicht und Stress. Seine Wutanfälle trieben den Blutdruck in die Höhe. Sein Sohn vermutet, irgendwann |169| habe Karl Brenner resigniert und aufgegeben. »Schon lange vor seinem biologischen Tod ist er psychisch und sozial gestorben«, stellt Michael Brenner fest. »Ich habe es immer gespürt, aber nie so aussprechen können wie heute.« Erst jetzt kann er sehen, dass sein Vater um viele Jahre seiner Jugend betrogen wurde und welchen Preis er für sein anfängliches Lebensglück zahlte. Darum sieht er ihn nicht nur als Täter, sondern auch als ein Opfer des Krieges. Die Jahre in der Wehrmacht haben, wie der Sohn es sieht, Karl Brenners Persönlichkeit, seinen Charakter und sein Sozialverhalten beschädigt. Mental ist er nie in der Bundesrepublik angekommen.
Aber, betont Brenner, die komplette Sicht auf seinen Vater sei ihm wichtig. Der sei eben nicht nur Opfer gewesen. Er gehörte zu den Tätern. »Er kämpfte nicht für die Nazis, er kämpfte als Nazi.« Brenner ist davon überzeugt: Diese Aussage trifft auf neunzig Prozent aller Väter in den entsprechenden
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