Nachkriegskinder
kann nur sagen, ich hab’s nicht gesehen!«
Die Freiheit, über die eigene Geschichte zu verfügen
In einer Testphase bot er Hunderten von Freunden und Bekannten sein Manuskript als Pdf-Datei an und sammelte Feedback ein. Häufig hörte er: »Da ist bei dir noch etwas unerledigt.« Doch Brenner meint, das erlebe er genau umgekehrt. Er habe das Gefühl, es sei alles erledigt. Seine Gegenüber dächten wohl, er müsse darin rumwühlen, weil es ihn bedränge. »Es bedrängt mich aber nicht«, grenzt er sich ab. »Ich empfinde es als Bereicherung, als spannend. Ich kann jetzt über meine Geschichte verfügen, weil ich sie kenne. Erst heute, mit 58 Jahren, habe ich die Freiheit darüber zu verfügen.« Nein, er empfinde keinerlei Belastungen, er sei mit sich im Reinen wie nie zuvor. »Meine Kindheit war wie sie war. Das ist Vergangenheit, auch die damaligen Defizite. Ich rege mich ja auch nicht darüber auf, dass ich nicht zwei Meter groß und blond bin.«
Man könnte die Geschichte von Michael Brenner auch ganz anders beginnen. Man könnte von einem aufgeweckten Jungen erzählen, der zusammen mit einer jüngeren Schwester in armen Verhältnissen im Hamburger Stadtteil Horn aufwuchs. Die Wohnung der fünfziger Jahre ohne fließend Warmwasser, ohne Zentralheizung, ohne Waschmaschine, stattdessen eine Waschküche im Keller. Die Leinen zum Trocknen befanden sich im Garten zwischen den Mietskasernen. Kein Tag verging ohne heftigen Streit zwischen den Eltern, meistens ging es um Geld. Karl Brenner, ein kleiner Angestellter, empfand es als Demütigung, eine |159| Frau zu haben, die arbeiten ging, denn so war für jedermann sichtbar: Er konnte seine Familie nicht allein ernähren.
Der Vater war nie zufrieden. Nichts war gut oder richtig in seiner Umgebung, alle verhielten sich falsch. Seinem Sohn schärfte er ein, er sei etwas Besseres – er solle mit diesen oder jenen Kindern nicht spielen. Das bezog sich vor allem auf Kinder aus Flüchtlingsfamilien. In der Nachbarschaft wohnten viele Heimatvertriebene, über die der Vater pausenlos abfällige Bemerkungen machte.
Nie ging er zur Wahl. Mit Demokratie konnte er nichts anfangen. Allerdings war er auch kein Rechtsradikaler, jedenfalls klangen seine Sprüche gegen den Rest der Welt nicht braun eingefärbt, sondern einfach nur negativ und herabsetzend. Manchmal geriet er völlig außer sich, eine ungehemmte Wut richtete sich dann gegen alles und jeden, auch gegen seine Frau und die Kinder. Dass es sich bei den Beschimpfungen um einen aggressiven Landserjargon handelte, begriff Michael erst, als er kein Kind mehr war. Einmal warf der Vater einen Teller mit Essen an die Wand. Davon blieb jahrelang ein großer Fleck zurück. Offenbar meinten die Erwachsenen, es lohne die Mühe nicht, den Fleck zu übermalen. Wie alle Kinder gab auch Michael sich selbst die Schuld an Streit und Unglück seiner Eltern, und irgendwann, als es ihm zu viel wurde, kroch er tief in sich hinein. Flach atmen und wenig an sich heranlassen. Stand-by-Modus als Überlebenssystem.
Soweit nichts Besonderes. Kinder in belasteten Nachkriegsfamilien gab es viele – kleine Menschen mit großen Fähigkeiten der Selbstberuhigung, der Selbstbetäubung. Indianer weinen nicht. Man ist schließlich nicht aus Zucker. – Reden wir lieber über die hellen Seiten in Michaels Kindheit. Natürlich wurde in dieser Familie auch gelacht. Der Junge genoss seine Lieblingsspeisen, seine Lieblingsbücher, er freute sich über neues Wissen und über die Tatsache, dass er ständig wuchs und stärker wurde. Die Eltern lobten gute Schulnoten und Erfolge im Sport. Sie liebten ihren Sohn, genauso die Großeltern. Michael war der Hoffnungsträger |160| der Familie. Täglich hörte er von den Erwachsenen den Satz: »Du sollst es einmal besser haben«.
Kein Mangel an Geschenken
Obwohl das Geld eigentlich nie reichte, mangelte es nicht an Spielzeug und anderen Dingen, an denen ein Kind Freude hat: Rollschuhe, Roller, Hula-Hoop-Reifen, Legosteine, Wiking- und Schuco-Autos, eine Eisenbahn von Märklin, Fußbälle, ein Fahrrad und die Kosmos-Experimentierkästen für Chemie und Physik. Er fuhr in eine Kinderkur, machte Ferien in Sommerlagern, bekam Sprachtherapie, wurde Mitglied im Turnverein und später im Fußballverein. »Fast jedes Wochenende unternahm mein Vater einen Ausflug ins Alte Land an die Elbe. Er nahm mich auch zum Fußball mit«, erinnert sich Brenner. »Ich dürfte mich über meine Kindheit nicht beklagen«. Gehe er von der
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