Nachricht von dir
sie, die Familie aufrechtzuerhalten, doch meine Mutter war durch diesen Betrug wie vor den Kopf gestoßen. Ihr Mann hatte ihre Liebe zerstört und alles, was sie sich aufgebaut hatten, zunichte gemacht. Deshalb hat sie sein Angebot abgelehnt und ihn verlassen.«
»Von einem Tag auf den anderen?«
Jonathan zahlte und kehrte zum Wagen zurück.
»So war deine Großmutter eben«, erklärte er und ließ den Motor an.
»Das heißt?«
»Sie war eine leidenschaftliche Frau, eine große Idealistin und dazu ungeheuer temperamentvoll. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass der Mensch, den sie am meisten auf der Welt liebte, in der Lage war, sie zu belügen und zu verletzen. Sie hatte oft gesagt, das Wichtigste in einer Beziehung sei das Vertrauen. Ohne Vertrauen, meinte sie, sei die Liebe keine richtige Liebe, und in diesem Punkt hatte sie meines Erachtens recht.«
Als hätte Charly plötzlich seine kindliche Naivität abgelegt, bemerkte er:
»Das ist ganz ähnlich wie das, was du mit Maman erlebt hast.«
Jonathan nickte.
»Ja, jahrelang waren deine Mutter und ich eins. Wir haben alles geteilt, und unsere Liebe hat uns vor allem beschützt. Doch irgendwann … irgendwann verschwindet die Liebe … und dann gibt es nichts mehr zu sagen.«
Charly nickte traurig, und nachdem es nichts mehr zu sagen gab, schwieg er, bis sie zu Hause waren.
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Kapitel 9
Ein wohlgehütetes Geheimnis
Zwischen ihnen bestand die Intimität eines wohlgehüteten Geheimnisses.
Marguerite Yourcenar,
Die schwarze Flamme
San Francisco
Sonntag
Früher Nachmittag
Charly öffnete die Haustür und stürmte ins Wohnzimmer.
»Schau, Onkel Marcus! Ich habe zwei Fische geangelt!«
Auf der Couch liegend, die Beine ausgestreckt, rauchte der Kanadier einen Joint, groß und dick wie eine Frittentüte.
»Hier riecht es so komisch«, sagte der Junge und hielt sich die Nase zu.
Marcus sprang auf und ließ seinen Joint mit einer blitzschnellen Bewegung in dem Übertopf verschwinden, der auf dem Couchtisch thronte.
»Hallo, kleiner Mann.«
Jonathan warf seinem Freund einen vernichtenden Blick zu.
»Wie oft habe ich dir schon gesagt …?«, begann er wütend.
»Okay, okay. Ist ja nichts passiert«, verteidigte sich der Kanadier halbherzig.
»Bei deinen Tricks wird mir noch das Sorgerecht für mein Kind entzogen.«
Jonathan riss zum Lüften alle Fenster auf, während Charly aus der Kühltasche einen hübschen Goldbarsch und einen kleinen noch zuckenden Plattfisch hervorholte.
»Sie sind noch ganz frisch!«, rief er, stolz auf seine Beute.
»Im Gegensatz zu Onkel Marcus«, ergänzte Jonathan, um seinen Sohn zum Lachen zu bringen.
Tatsächlich hatte sein Mitbewohner eine sehr persönliche Vorstellung von »Sonntagskleidung«: zerknitterte Unterhose, verschiedene Schuhe und ein T -Shirt, auf dem unter der jamaikanischen Flagge zur Abwechslung ein Cannabisblatt prangte.
»Willst du etwas Obst?«, fragte Jonathan und verstaute den Rest des Picknicks im Kühlschrank.
»Noch lieber hätte ich ein Dreifach-Spezial-Sandwich von Onkel Marcus …«
Jonathan verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
»Ist sozusagen schon fertig«, rief Marcus und holte die Zutaten aus dem Schrank.
Charly lief das Wasser im Mund zusammen, während er auf einen der Barhocker kletterte.
Sorgfältig bestrich Marcus die erste Toastbrotscheibe mit Butter und bestreute sie mit Kakaopulver. Dann verteilte er gesüßte Kondensmilch auf der zweiten und Ahornsirup auf der dritten.
Charly biss in das Sandwich und meinte mit vollem Mund:
»Hmmmm, meckt lecker, danke!«
Stolz auf das Kompliment, bereitete sich Marcus den gleichen Imbiss zu.
»Für dich auch eines, Jon?«
Jonathan wollte schon ablehnen – undenkbar für ihn, so eine kalorienreiche Mischung zu sich zu nehmen –, dann aber besann er sich. Warum auf jedes Vergnügen und den Moment der Vertrautheit mit Marcus und seinem Sohn verzichten? Trotz all seiner Fehler brachte sein Schwager Frohsinn und Originalität in den Haushalt. Und wer außer ihm war so oft in der Lage, ein Lächeln auf Charlys Gesicht zu zaubern, während er selbst, gefangen in seiner Tristesse, nicht gerade der heiterste Vater war, von dem ein Sohn träumen konnte.
»Na, warum eigentlich nicht?«, sagte er und setzte sich zu ihnen an die Küchentheke.
Er schenkte allen Pu-Erh-Tee ein und suchte in dem kleinen Transistorradio den Sender, der auf kalifornische Rockmusik spezialisiert war. Zu den Rhythmen von Eagles, Toto und
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