Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Mikrokosmos eines Wassertropfens.
Da begegnen Ihnen stachelige Christbaumkugeln zuhauf. Sie haben die Bekanntschaft eines Strahlentierchens gemacht, auch Radiolaria genannt. Strahlentierchen sind Eukaryonten, Einzeller mit Zellkern, deren Cytoplasma ein hohles, kugelförmiges Skelett ummantelt. Unter Cytoplasma versteht man gallertartiges Gewebe, das den Grundstoff jeder Zelle bildet — nur der Zellkern ist anders aufgebaut. Im Cytoplasma finden sich Enzyme und Ionen, hier läuft der Stoffwechsel auf Hochtouren, werden Nährsubstanzen kraft chemischer Reaktionen synthetisiert und in den Zellkern transportiert. Das Plasma des Strahlentierchens umgibt eine vielfach durchlöcherte Sphäre aus Siliziumdioxid, das so genannte Cytoske- lett. Mitunter finden sich im Inneren solcher Sphären weitere Sphären, konzentrisch ineinander geschachtelt wie russische Püppchen. Der äußeren Sphäre entspringen starre Lanzen, strahlenförmig angeordnet und ebenfalls von Cytoplasma überzogen. Das Ergebnis ist die schillernde Sonne, die auf Sie zugeschwebt kam. Beim Schweben helfen ihr die Axopodien, jene stacheligen Auswüchse, mit denen das Strahlentierchen übrigens auch frisst beziehungsweise gelöste Nährstoffe aus dem Wasser filtert und herumtreibende, verwertbare Partikel einfängt — auch an Ihnen hätte es sicher Gefallen gefunden.
Radiolarien, Strahlentierchen, begegnen Ihnen im Oberflächenwasser fast sämtlicher Meere, speziell in pazifischen und indischen Warmgebieten. Ihre Skelette muten an wie organische Raumstationen, und tatsächlich entstammen sie einer Epoche der Erdgeschichte, in der das Leben seine exotischsten Kapriolen schlug, dem Kambrium. Möglicherweise bevölkerten die ersten Strahlentierchen schon Millionen Jahre zuvor die Meere, nachgewiesen sind sie definitiv aus der Zeit, als Miss Evolution ihre Waffenkammer öffnete. Wer sich ein genaueres Bild ihres inneren Aufbaus machen will, findet im Frankfurter Senckenberg-Museum eine Reihe eindrucksvoller Modelle.
Jetzt, wo Sie Ihre natürliche Größe wiedererlangt haben, können Sie das rührige Tierchen nicht mehr sehen, ebenso wenig wie die Milliarden anderer Organismen, mit denen es sich seinen Tropfen teilt. Erst ein Blick durch das Fluoreszenz-Mikroskop gibt ihm wieder Gestalt und Farbe. Unglaublich klein ist es — und unglaublich bedeutsam für die chemische Zusammensetzung des Meerwassers, denn für den Bau seines Skeletts benötigt es Siliziumdioxid. Das ist im Wasser reichlich vorhanden, überreichlich sogar. Die Radiolarien filtern es heraus und verarbeiten es zu tragenden Strukturen. Solcherart gerüstet trudeln die kleinen Ritter zu Lebzeiten durch sonnengetränkte Wasserschichten und sinken nach ihrem Tod auf den Meeresgrund. Sofort machen sich die üblichen Aasfresser über die Lieferung her und vertilgen das Cytoplasma. Was bleibt, sind Sphären und Stacheln, die mit der Zeit zu Kieselschiefer zusammengepresst werden und ganze Abschnitte des Meeresbodens sedimentieren.
Außer Strahlentierchen sind Ihnen Kieselalgen und Panzeralgen begegnet. Exemplarische Vertreter einer Mikrobenvielfalt, deren Katalog fast täglich neue Eintragungen erfährt. »Die Wissenschaft lernt immer noch, was in einem einzigen Tropfen Meerwasser enthalten ist«, sagt etwa Craig Carlson, der an der Universität in Santa Barbara Ökologie, Evolution und Meeresbiologie lehrt. 2002 hat er mehr als 10.000 planktonische Bakterien vom Typ SAR 11 in besagtem Tropfen entdeckt. »Mikroben wie zum Beispiel Bakterio- plankton beinhalten wichtige biochemische Wirkstoffe«, pflichtet Kollege Robert Morris bei. Zusammen mit Stephen Giovanni von der Oregon State University haben Carlson und Morris eine Studie initiiert, deren Inhalt geeignet ist, unser komplettes Weltbild auf den Kopf zu stellen. Da haben wir in der Schule brav gelernt, dass der Größere immer den Kleineren frisst und Mikroben eigentlich nur dazu da sind, unsere Atemwege zu befallen, sodass wir Tabletten gegen Halsweh lutschen müssen. Alles Unsinn, sagt Carlson:
»Die meisten Menschen glauben, dass Mikroben krank machen. In Wirklichkeit ist nur ein geringer Prozentsatz der Mikroben pathogen. Die meisten sind aber wichtige Träger der gesamten Biomasse. Die Biosphäre liegt sozusagen in den Händen dieser kleinen Organismen.« Sie können sich bei den Winzlingen bedanken, dass Sie Ihr Leben nicht hechelnd und in dicke Mäntel gehüllt verbringen müssen. Sie haben uns den Sauerstoff zum Atmen geschenkt,
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