Nachrichten aus einem unbekannten Universum
sich ähnlich, nur ohne Staffelung. Die Erdachse entspricht sozusagen der Mitte des Stadions. Je näher ein Teilchen an der Achse liegt, desto kürzer ist folgerichtig seine Bahn. Je weiter es davon entfernt ist, desto mehr Strecke hat es zurückzulegen, um einer vollständigen Planetendrehung — 23 Stunden, 56 Minuten und 4 Sekunden — zu folgen. Je nach geografischer Lage sind Teilchen somit unterschiedlich schnell unterwegs, um demselben Drehimpuls zu genügen. Sprich, äquatoriale Teilchen — Luftmoleküle beispielsweise — müssen ordentlich Gas geben, um mit ihren achsnahen Kollegen mitzuhalten. Ein Bemühen, hinter dem sie immer etwas zurückbleiben, weil sie vom Äquator fort- und zu den Achspunkten, den Polen, hin abgelenkt werden.
Diese Ablenkung nennen wir Coriolis-Effekt. Auf der nördlichen Halbkugel erfolgt sie in die rechte, auf der Südhalbkugel in die linke Richtung. An den großen Windsystemen orientieren sich die Oberflächenströmungen der Meere, bis sie an die Kontinentalränder stoßen und zurückgeleitet werden. Mit zunehmender Wassertiefe allerdings nimmt der Einfluss des Windes ab. Dafür verstärkt sich die Corioliskraft, bis die Wassermassen hundert Meter unter dem Meeresspiegel in eine schwache Gegenströmung zur Oberfläche geraten. Strömungen, sieht man daran, sind echte Opportunisten.
So sind die gewaltigen, gegenläufigen Zirkulationssysteme der beiden Erdhalbkugeln entstanden, wie wir sie kennen. Im Großen wie im Kleinen: Ob Sie’s glauben oder nicht, in südafrikanischen Badewannen gurgelt das Wasser andersherum durch den Ausguss als in finnischen. Wer zu Fuß Südaustralien durchquert und westwärts geht, wird einen höheren Verschleiß der linken Schuhsohle zu beklagen haben als jemand, der in gleicher Richtung in Sibirien unterwegs ist. Der sibirische Wanderer kann dafür seinen rechten Stiefel vorzeitig zum Schuster geben. Jede Menge Untersuchungen sind angestellt worden über die Abnutzung von Autoreifen und Eisenbahnschienen, sogar von Transistoren und Glasfasersträngen, und alle belegen, dass der Coriolis-Effekt bis in den Nano-Bereich hinein wirksam ist. Nur dass die Engländer im Kreisverkehr links abbiegen statt rechts, verdankt sich nicht der Corioliskraft, sondern anheimelnder Sturheit.
So beeinflusst letztlich der Planet selbst das Strömungsverhalten — zumindest solange er sich brav weiterdreht.
Wir neigen dazu, Strömungen als Konstanten wahrzunehmen. Gemessen an einem Menschenleben ist diese Sichtweise gar nicht mal verkehrt. Allerdings sind wir Eintagsfliegen auf der geologischen Zeitachse. Zwar können sich — bedingt durch jahreszeitliche Windwechsel — ozeanische Wirbel verschieben und den Verlauf der Meeresströmungen bis zu einem gewissen Grad variieren. Doch die große Route, auf der wir vorhin unterwegs waren, scheint uns auf ewig festgelegt. Das allerdings ist eine irrige Annahme. Legen wir den erdgeschichtlichen Maßstab an, hat die wechselnde Konstellation der Landmassen das System mehr als einmal grundlegend verändert. Globale Vereisungen, Meteoriteneinschläge, vieles kann dazu beitragen, Meeresströmungen in neue Bahnen zu lenken. Ausgerechnet der muckelig warme Golfstrom gehört zu den schwächsten Gliedern in der Kette. Ohnehin macht er alle paar tausend Jahre eine Siesta — den nächsten Stopp allerdings könnten wir durch eigenes Zutun schneller herbeiführen, als uns lieb ist. Im letzten Teil des Buches werden wir die Horrorvision, die Roland Emmerich in seinem Film The Day After Tomorrow faszinierend umgesetzt hat, eiskalt überprüfen.
Auch Professor Giselher Gust von der Technischen Universität Hamburg-Harburg hat die 1000-Jahre-Reise mehrfach unternommen, ohne dass ihm unser schickes Tauchboot zur Verfügung gestanden hätte. Mit so was gondeln Schriftsteller durch Ozeane aus Druckerschwärze. Was bei uns so einfach ging, hat sich in Gusts Kopf abgespielt, immer und immer wieder. Fasziniert von der globalen thermohalinen Zirkulation, bauten er und sein Team schließlich einen mechanischen Reisenden, der stellvertretend für kältegefährdete Professoren in den Strömungen driften und deren Geheimnissen auf den dunklen Grund gehen kann. Seit Jahren schon misst man Strömungen mit mobilen Schalldetektoren oder fest verankerten Sonden. Gusts autarker Drifter indes — eine mehrere Meter lange, schlanke Röhre, gekrönt von kugelförmigen, gläsernen Auftriebskörpern — kann mehr. Die Glaskugeln gestatten dem Drifter, in der
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