Nachrichten aus einem unbekannten Universum
über dessen Unterseite. Dort siedeln dichte Algenmatten, die das Krebschen mit borstigen Beinchen abschabt. Man gebe einem einzigen Krillkrebs zehn mal zehn Zentimeter Packeis samt Algenbewuchs und eine Minute Zeit — schon ist die Sache gegessen. Doch kahl fressen kann der Krebs die Eisweiden nicht. Zu ergiebig ist der Algenrasen, oft genug sind die Augen des Krebschens größer als der Bauch. Dann gibt es einen Teil des Algenmahls wieder von sich, ganz, halb- oder unverdaut, gebunden in kleine klebrige Kügelchen.
Wenn das geschieht, beginnt es am Südpol zu schneien.
Nun ist Schnee in der Antarktis nichts Besonderes, unter Wasser aber schon. Meeresschnee nennt man die langsam herabsinkenden weißlichen Partikel, die auf Aktivitäten planktonischer Krebse schließen lassen — auch anderswo: Rund um den Globus schneit es, wenn die Krebse fressen. Dieser Schnee ist eine ständig rieselnde Ressource. Mitunter spülen Meeresströmungen die nahrhaften Kügelchen wieder nach oben, mit dem Resultat ausgedehnter Algenblüten. Von alldem ahnt das filtrierende Krebslein nichts, und so hat es nicht den geringsten Schimmer, dass sein Schnee Kohlenstoff bindet, der bis zu eintausend Jahre in der Tiefsee verbleiben kann. Solch gewaltige Mengen davon pumpt der Schnee in die Abyssale, dass man ihn auch »biologische Pumpe« nennt. Auf dem Weg nach unten dient er etlichen Meeresbewohnern als Nahrung, die damit indirekt von den Krebsen leben. Wo immer sich diese befinden, schneit es, mal mäßig, mal stärker. In der Antarktis kommt es schließlich zu derart dichtem Schneetreiben, dass man oft keine Flosse mehr vor Augen sieht.
Der planktonische Schnee zeigt auf anschauliche Weise, dass Fressen und Gefressenwerden mehr bedeutet, als einander hektisch hinterherzujagen. Was Ökopantheisten gerne predigen — dass auf dieser Welt alles eins ist und miteinander verwoben —, gibt auch Pragmatikern zu denken. Nirgendwo sonst wird so deutlich, was unter dem Begriff Nahrungsgeflecht zu verstehen ist. Die Sonne liefert Energie, daraus synthetisieren Algen mit Hilfe ihrer Chlo- roplasten Zucker und Stärke. Ein winziger Krebs frisst diese Algen und scheidet sie aus. Sein Kot dient anderen Organismen wie Fischen, Seegurken und Schnecken als Futter, die ihrerseits von größeren Tieren gefressen werden, die noch größeren Tieren als Mahlzeit dienen. Die ganz großen Tiere schließlich tun sich an den kleinsten gütlich, sodass Plankton in den Meeren die Rolle des Universalversorgers einnimmt.
Auf einem Diagramm über Ernährungsgeflechte muss man sich das Plankton als großen Kreis in der Mitte vorstellen, von dem vielfach verzweigte Linien abgehen. Sie führen zu anderen Organismen, die auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden sind. Fische etwa fressen gerne Seegras, Schwämme, Krebse, Reptilien und andere Fische. Krebse fressen kein Plankton, leben aber manchmal in Symbiose mit Schwämmen, die sich daran gütlich tun. Korallen ernähren sich ausschließlich von Plankton und gehen zugleich aus ihm hervor. Ähnliches gilt für Würmer, die wiederum Krebsen als Nahrung dienen. Wird’s unübersichtlich? Das ist noch gar nichts. Delphine fressen außer Fischen auch Reptilien, die ihrerseits gerne Schwämme mampfen. Der Seeigel knabbert Muscheln an, die ebenso auf dem Speisezettel des Seesterns stehen. Die Larven der Seesterne und Seeigel treiben eine Weile in der gleichen Reisegesellschaft wie Algen und Seegras; sobald sie erwachsen sind, fressen sie diese. Endlos lässt sich das fortführen. Allein dieser kurze Einblick macht klar, was der Verlust eines einzigen Faktors für das Gesamte bedeuten kann. Verschwände etwa der Antarktische Krill, wären nicht nur Wale betroffen, sondern das komplette marine Ökosystem, und letztlich auch das Leben auf dem Land.
Doch keine Angst. Leise rieselt der Schnee.
Und rieselt und rieselt. Noch. Erst wenn Menschen beginnen, das Zooplankton nachhaltig zu dezimieren, gehen Frau Holle die Flocken aus, und die biologische Pumpe stellt ihre Arbeit ein. Allzu sorglos sollten wir damit nicht umgehen, denn erste alarmierende Symptome treten bereits auf. In den vergangenen vier Jahrzehnten hat die Populationsdichte des Antarktischen Krills dramatisch abgenommen — möglicherweise im gleichen Maße, wie das Packeis schwindet. Dessen viele Vertiefungen bieten den Krebschen nämlich lange genug Schutz, um ordentlich Nachwuchs ins Meer zu entlassen. Ohne das frostige Versteck fiele der Krill seinen
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