Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Magie.«
Wahrhaftig! So ein Talisman empfiehlt sich, wenn der Bäcker morgens wieder den bösen Blick draufhat, und selbstredend werden entfesselte Autos von einem Stückchen Koralle in den nächsten Baum geschleudert, statt Mutti platt zu fahren.
Weiter geht’s: »Sie haben eine besondere Wirkung auf unser seelisches Leben und bringen uns während der Anwendung viel Lichtblicke und Erlebnisse.«
Anwendung? Interessant. Wie wendet man Korallen an? Führt man sie ein? Und wo?
»Die rote Koralle wird auch als Blut der Götter auf Erden bezeichnet. Sie stärkt unser Lebensgefühl und das Bedürfnis nach Partnerschaft und Freundschaft.«
Klar, wenn man von morgens bis abends mit seiner Koralle quasselt, hat man irgendwann das Bedürfnis nach echter Gesellschaft. Im Folgenden wird der Schwachsinn auf die Spitze getrieben:
»Wer auf schwarze Kräfte, bösen Blick oder Zauberei reagiert, sollte immer einen Ast roter oder schwarzer Koralle bei sich tragen.«
Aha. Gleich einen Ast, denn:
»Ihre Energien entfalten diese Korallen besonders auf den Wurzeloder Sexual-Chakra.«
Ha! Jetzt ist es raus! Darum also geht’s, den kleinen Polypen in der Hose zu motivieren. Dass er mal wieder die Ärmchen reckt. Dafür bricht man Strukturen, die über Hunderttausende von Jahren gewachsen sind, in Stücke und verhökert sie an Schlaffis, die in der Weichkoralle zwischen ihren Schultern von was Hartem träumen.
Man hat’s nicht leicht als Koralle, so viel steht fest. Nicht nur Menschen, auch Strömung und Wellen setzen ihnen zu. Muscheln verankern sich in Korallenstöcken, indem sie sich in die Kalkschicht bohren, Schwämme verätzen sie mit Säure, um auf der Oberfläche Fuß zu fassen. Tropische Stürme können ein Riff zur Gänze zerstören. Dann gibt’s zwar wieder Sand, aber die Pracht ist vorerst Geschichte. Wirklich kritisch wird es für Korallen, wenn der Salzgehalt im Wasser einen bestimmten Wert unterschreitet oder es zu kalt beziehungsweise warm wird. Wie wir später sehen werden, bedingen Luft- und Wassertemperatur einander. Der viel beschworene Klimawandel betrifft ebenso die Atmosphäre wie die Meere. Denn Temperaturextreme vertreiben die Untermieter der Korallen. Finden die Zooxanthellen keine günstigen Bedingungen für die Photosynthese mehr vor, verlassen sie ihre Wirte. Die bleichen aus, weil die Algen zugleich deren Farbstoff bilden, und sterben schließlich ab. Die Riffgemeinschaft bricht in sich zusammen. Algenrasen überwuchert die verfallende Geisterstadt. Mit der Zeit erscheinen Pflanzen fressende Fische und andere Vegetarier, die sich über den frisch entstandenen Rasen hermachen. Sie zumindest profitieren vom Tod des Riffs, allerdings können neue Korallenstöcke unter solchen Bedingungen nicht wachsen.
Kehren wir zurück in unser schönes, intaktes Riff.
Es ist Nachmittag geworden. Ein stattlicher Zackenbarsch defiliert mit gemächlichen Flossenschlägen über eine Formation weißlicher Hirnkorallen hinweg (auch sie verdanken ihren Namen ihrem Äußeren). Er macht einen überaus gemütlichen Eindruck, fast wie ein lieber alter Onkel. Der kleine Tintenfisch mit den blauen Ringen findet das auch. Er kommt dem Barsch sehr nahe, der in Wirklichkeit kein lieber, sondern ein ganz böser Onkel ist! Seine Taktik besteht darin, sich harmlos und freundlich zu gebärden, bis seine Beute jede Vorsicht fahren lässt. Aber dann! Zackenbarsche können aus dem Stand lospreschen. Der Blauring-Oktopus wäre fällig, doch zu seinem Glück hat Miss Evolution seinen hübschen blauen Ringen einen Code eingegeben: »Wer mich frisst, ist doof«, steht da. Soll heißen, der Kleine ist giftig. Viele Lebewesen des Riffs setzen ihre teils phantastischen Farben ein, um Räuber abzuschrecken. Der Blauring-Oktopus zum Beispiel ist eines der giftigsten Tiere der Welt. Sein Biss kann einen Menschen binnen Sekunden töten. Der Barsch weiß das und lässt den blau Beringten ziehen. Ohnehin haben einige vorbeitreibende Algen seine Aufmerksamkeit gefesselt. Sanft schaukeln sie mit den Wellen, auf und ab — und etwas schaukelt darin mit, das keine Alge ist, aber so tut. Auf und ab, auf und ab. Verdammt gute Tarnung, das muss man dem Burschen lassen. Aber nicht gut genug. Es ist eine winzige Sepia, ebenfalls aus der Familie der Tintenfische. Der Barsch schaut genauer hin. Giftig? Nicht giftig. Also fällig. Mit einem gewaltigen Satz katapultiert er sich nach vorne, mitten hinein ins Gemüse.
Algen mit Saugnäpfen. Mhm, das hat
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