Nachrichten aus einem unbekannten Universum
übereinander gestaffelt vor der prachtvollen Kulisse einer tausendfach verästelten, knallgelben Gorgone, die quer zur Strömung aus dem Hang wächst. Ein kurzes Maul und die binokulare Anordnung ihrer Augen gestatten den Doktorfischen, Beute aus kürzester Distanz wahrzunehmen, sodass sie auch der durchsichtigen Tierchen gewahr werden. Hin und wieder zuckt ein Doktorfisch nach vorne oder tauscht seine Position mit dem Nebenmann, ansonsten ist man um völlige Reglosigkeit bemüht. Sparsame Flossenschläge, winzige Korrekturen der Position, mehr wird an Energie nicht aufgewendet. Dass die Tiere überhaupt fressen, verrät lediglich das schnelle Ausstülpen der beweglichen Mäuler, mit denen Doktorfische ihre Beute blitzschnell ansaugen.
Effizienz und Flucht, alles im Riff ist darauf ausgerichtet. Mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel zu erzielen und sich ansonsten nicht erwischen lassen. Auch die vielfarbig gestreiften Korallenwächter gehören zur abwartenden Sorte Fisch — etliche haben sich zwischen den Ausläufern einer Koralle auf die Lauer gelegt, deren raumgreifende Massive den Eindruck machen, als seien Dutzende schaufelartiger Geweihe zu einer bizarren Skulptur verschmolzen. Tatsächlich spricht man von Elchhornkorallen. Wie erstarrt schmiegen sich die Korallenwächter in die Kuhlen und Zwischenräume, um überraschend vorzuschießen, wenn ein unvorsichtiges Fischlein zu dicht herankommt. Im Schatten darunter, wo zwei Eichhornmassive aneinander grenzen, dämmert ein Schwarm Schwarzstreifen-Soldatenfische vor sich hin, auch sie vollkommen reglos. Sie allerdings warten nicht auf Beute. Tagsüber suchen sie Schutz in den Korallen. Erst bei Einbruch der Dämmerung werden sie zum Vorschein kommen.
I want to wake up in a city that never sleeps ...
Im Laufe des Vormittags erscheint aus dem Blau des angrenzenden Kanals ein Geschwader Stachelmakrelen und hält auf das Riff zu. Jedem hier ist klar, das kann nichts Gutes bedeuten. Sofort ballen sich die Doktorfische zusammen und ziehen sich zur Kante zurück.
Jetzt erweist sich, warum die wenig aktiv scheinenden Planktonfresser so stromlinienförmig gebaut sind. Sicherheitshalber versuchen sie zwar, möglichst nah am Riff zu bleiben, doch Plankton kennt weder Fahrplan noch Haltestelle. Mitunter sind die Doktorfische darum gezwungen, sich von der schützenden Kante zu entfernen, um ihren Bedarf an Nahrung zu decken. Körperform und Gabelschwanz dienen der schnellen Flucht, und die ist gerade angesagt, denn Stachelmakrelen sind alles, nur keine Planktonfresser.
Uns erscheint so ein Korallenriff idyllisch, doch für seine Bewohner ist Vorsicht erste Bürgerpflicht. In Großstädten lauern nun mal allerhand Gefahren. Überquert man guter Dinge eine Korallenkreuzung, kann es passieren, dass aus den Verästelungen einer Gorgone unvermittelt ein Langnasen-Büschelbarsch hervorschnellt. Dessen Absichten sind eindeutig, ebenso wie die des Schnepfenfischs, der sich besonders perfider Taktiken bedient: Schwimmen zum Beispiel Herr und Frau Goldstreifen-Süßlippe zum Plankton-Shopping, dümpelt er mit und schmiegt sich in das Kielwasser von Frau Süßlippe. So kommt er beiden nahe, ohne gesehen zu werden. Im geeigneten Moment verlässt er seine Deckung und saugt sich an Herrn oder Frau Süßlippe fest. Stachelmakrelen beherrschen den Trick ebenfalls. Ganz schön link, ist man geneigt zu sagen, aber jeder im Riff ist ein Spieler und Trickser. Anders lässt sich hier nicht überleben.
Die Sonne zieht ihre Bahn.
Um die Mittagszeit haben schillernd grüne Papageienfische begonnen, Algenrasen von der Oberfläche einer Steinkoralle abzuweiden. Der Block ist bewachsen mit Grünalgen. Viele Riffbewohner wie Doktorfische, Barsche, Chimären und Papageienfische sind Pflanzenfresser und vertilgen große Mengen davon, weshalb Pflanzen in der Megalopolis die tragende Rolle spielen. Braune und grüne Meeresalgen überziehen die Kalkskulpturen, an den Rändern der Riffe dominieren ins Meer hinauswachsende Rotalgen. Grünalgen bilden mithin die ergiebigste Nahrungsquelle, überwuchern ganze Korallenstöcke und setzen sie den scharfen Kiefern der Vegetarier aus, die an ihnen knabbern. Wohlweislich bleiben die Korallenpolypen im Bett, würden sie rausschauen, gäbe es Opfer zu beklagen. Nicht immer gelingt es, sich wegzuducken. BüffelkopfPapageienfischen ist das Knabbern am Salat zu mühsam, sie brechen gleich ganze Stücke aus der Koralle und verschlucken sie — was ihrer
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