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Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Titel: Nachrichten aus einem unbekannten Universum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Verhalten ändert. Jedenfalls sahen sich die Seeleute einem gleichrangigen Feind auf Augenhöhe gegenüber.
    Hier setzte Herman Melville an: Ahabs Rachsucht ist zugleich das unausgesprochene Eingeständnis, dass er den Wal als ebenbürtig akzeptiert. In seinem Hass erhöht er die Kreatur, gesteht ihr Intelligenz und Absichten zu, einen verschlagenen Charakter, ein Ich-Bewusstsein. Moby Dick ist nicht länger eine Ressource, er wird zu Ahabs persönlichem Gegner und nimmt damit menschliche Züge an. Das aber will Ahab, wollen seine Männer nicht wahrhaben. Ein Tier, das kein Tier mehr ist und auch kein echter Mensch, was bleibt da? Moby Dick muss der Teufel selbst sein, ein Wesen, das die gottgewollte Ordnung durcheinander bringt. Es muss vernichtet werden.
    Vielleicht liegt hierin die Wurzel des unversöhnlichen Hasses, den Norweger, Isländer und Angehörige anderer Nationen gegen Wale entwickelt haben. Die Leidenschaft, mit der aufgebrachte Walfänger gegen jeden zu Felde ziehen, der ihr uneingeschränktes Recht auf Selbstbestimmung anzutasten wagt, erweckt den Eindruck tiefster Verbitterung. Wer würde einem Schweinezüchter unterstellen, seine Tiere seien edlere Wesen als er selber? Doch die tonnenschweren Lichtgestalten genießen so viel Sympathie, dass die Jäger sich dagegen wie Abschaum vorkommen müssen, Verfemte der Meere, verachtet von allen anständigen Menschen. Der Wal als Günstling einer nach Idealen süchtigen Welt, man selbst als erklärter Bösewicht — gut, dann erst recht. Wenn uns alle zu Schurken erklären, sind wir’s auch. Zuhören will uns ja sowieso keiner.
    Es scheint, dass Wale auch darum mit solcher Vehemenz gejagt werden, weil andere sie zu Miss Evolutions Liebling erklären und ihr Schicksal wichtiger nehmen als das des Seemanns, der ohne Walfang keine Arbeit hätte und nicht wüsste, wovon er seinen Kindern die Schule bezahlen soll. Wie sonst erklärt sich die Wut im Bauch, mit der Walfänger Naturschützern begegnen, sodass es immer wieder zu kriegerischen Handlungen kommt? Wie kann ein Tier mehr wert sein als die Familie?
    Solange die Fronten verhärtet sind, ist jede Diskussion zum Stillstand verdammt. Inzwischen versuchen besonnene Vertreter beider Seiten, gemäßigte Töne anzuschlagen. Die meisten jedoch schüren unverändert die Emotionen. Es wird nicht zwischen den Standpunkten vermittelt, sondern Posten bezogen im eigenen Lager und die Fallbrücke hochgezogen. Die einen wetzen die Harpunen, die anderen die Feder, und jeder nimmt vom anderen das Schlimmste an.
    Zurück zur Essex. Noch völlig verdattert vom Angriff des Wals, treiben die Männer in hölzernen Nussschalen auf dem Atlantik. Nachdem der Wal verschwunden ist, sind sie vorerst weder Jäger noch Gejagte. Dann aber kommt der Hunger, die Not, mit allen schrecklichen Begleitumständen: anschwellende Gliedmaßen, Muskel- und Motivationsschwund, Kopfschmerz. Noch ruht das Tier im Menschen, doch es schläft nicht länger. Richtig wach wird es dann, als der Erschöpfungstod einiger Männer die alles entscheidende Frage aufwirft: Darf man ihr Fleisch essen, um am Leben zu bleiben? Und ist man dann noch Mensch?
    Nun ist Kannibalismus noch kein Mord. In jedem Fall aber bekommt das Selbstverständnis der Männer tiefe Risse. Wozu sind sie sonst noch fähig? Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Jemand wird getötet und verspeist — der endgültige Kollaps aller Werte. Man hat abgewogen, wie nur Menschen es können. Auf eine Weise allerdings, die alle Beteiligten mit Grauen und Selbsthass erfüllt. Der Mensch frisst seinesgleichen, er bringt ihn dafür sogar um. Wenige Tage später hat das Drama ein Ende, andernfalls wäre der Besatzung auch das letzte Kapitel nicht erspart geblieben: dass niemand noch Lose zieht, sondern einfach über den Schwächsten herfällt (ihn quasi reißt).
    Man kann die Geschichte der Essex als menschliche Bankrotterklärung lesen. Ebenso darf man tiefes Verständnis entwickeln. Welcher Vorwurf ist den verzweifelten Seeleuten letztlich zu machen? Dass der Hunger stärker war als das Tabu? Dass sie in einen Überlebenskampf gezwungen wurden, der nach so genannten zivilisierten Regeln nicht zu führen war? Dass sie in ihrem Unglück herauszufinden suchten, wie weit sie gehen konnten? Tiere wurden sie zu keiner Zeit, tierhaft schon. Nicht aus Grausamkeit — kein Tier ist grausam — , sondern weil jedem Menschen etwas Animalisches innewohnt, ein uraltes Krisenbewältigungsprogramm. Wäre es

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