Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Möglichkeit zu nehmen, schuldlos zu überleben.
Ökophilosophen zerbrechen sich darüber gern den Kopf. Bloß kommt man so nicht weiter. Gehen wir’s anders an. Einigen wir uns darauf, dass man alles essen darf, was man zum Leben und Überleben braucht. Zweitens, dass man auch genießen darf, was man nicht unbedingt zum Überleben braucht. Drittens, dass man kein Lebewesen unnötig leiden lassen darf, um es zu essen. Viertens, dass man Bestände nicht über Gebühr strapazieren darf, um keine irreparablen Schäden zu verursachen. Fünftens, dass es doch so etwas gibt wie eine Grenze, nämlich die zwischen höheren und niederen Lebewesen. Was der bei weitem heikelste Punkt ist. Mit solchen Begriffen ist in der jüngeren Vergangenheit viel Schindluder getrieben worden.
Einige Evolutionsbiologen und Verhaltensforscher glauben dennoch, eine — wenngleich unscharfe — Grenze erkannt zu haben. Experimente haben den Beweis erbracht, dass einige wenige Tiere sich ihrer Existenz bewusst sind. Das Individuum weiß: Das bin ich. Es nimmt sich als eigenständige Persönlichkeit wahr, reflektiert sein Vorhandensein. Der bekannteste Test, um dies zu belegen, ist der Spiegeltest. Kaum ein Tier erkennt sich selbst in einem Spiegel.
Einige Affen, Tümmler, Delphine und Orcas sind dazu jedoch in der Lage. Für viele Biologen beginnt hier ansatzweise, was Menschen auszeichnet: kognitives, selbstbewusstes Denken, möglicherweise sogar Empathie, die Gabe, sich in andere hineinzuversetzen, mitzuempfinden und sein eigenes Handeln darauf auszurichten. Damit steht der Mensch eindeutig an der Spitze aller Spezies. Wir genießen eine gewisse Entscheidungsfreiheit (und selbst das stellen Hirnforscher heute in Frage), im Gegensatz zu vielen Tieren, die unbewusst vorgefertigten Verhaltensmustern folgen. Was nicht heißt, dass sie deswegen nichts empfinden: Schmerz, Glück, Trauer und Wut sind emotionale Zustände, für die Kognition und Empathie nicht zwingend erforderlich sind. Definitiv sind Tiere keine cartesia- nischen Maschinen. Aber die wenigsten sind für Mitleid disponiert, und das macht den großen Unterschied.
Von der Gabe des Mitleids kommen wir zur Pflicht der Verantwortung. Beide sind untrennbar miteinander verbunden. Verantwortungsvolles Handeln heißt abzuwägen. Es ist unvereinbar mit Dogmatismus, Fanatismus und kategorischen Ja/NeinPositionen. Vielmehr muss man sich der Mühe unterziehen, Sachverhalte differenziert zu betrachten und jedes Mal aufs Neue zu prüfen. Wer von Fall zu Fall entscheidet, führt eindeutig das mühseligere Leben. Dafür kann er besser mit Schuld umgehen und besser argumentieren. Verantwortung zu übernehmen heißt, der Umwelt den größtmöglichen Respekt zu erweisen — auch wenn es erforderlich ist, ein Tier zu töten. Die kanadischen Makah-Indianer, die auf eine lange Tradition des Walfangs zurückblicken, betrachten den Wal als Geschenk, danken ihm für sein Opfer und bereiten sich mit rituellen Reinigungen auf die Jagd vor. Modernen Gesellschaften mag es widersinnig erscheinen, ein Wesen gleichzeitig zu verehren und zu töten, aus Sicht der Makah ergibt genau das Sinn. Als weiße Siedler begannen, die Büffel Nordamerikas aus fahrenden Eisenwaggons zum puren Spaß abzuknallen, traten sie die Grundsätze der Indianer mit Füßen. Und wurden von ihnen dafür verachtet.
Die Geretteten der Essex haben sämtliche Stadien durchlaufen, die ein Wesen nur durchlaufen kann. Anfangs zogen sie aus, um Tiere zu töten, ohne einen Gedanken an deren Existenzanspruch zu verschwenden. Für sie war die Waljagd ein Geschäft, das ihnen und ihren Familien überleben half. Sicher wird es auch unter den Walfängern Menschen gegeben haben, die in den Säugern mehr sahen als schwimmende Tran-Reservoirs, die sie für ihre Schönheit bewunderten oder sich fragten, was so ein Tier empfinden mochte in einsamer Tiefe. Grundsätzlich aber waren die Regeln klar. Der Wal ist das Tier, seine Tötung rechtens.
Wenig später wurden die Jäger zu Gejagten. Ihr Gegner entwickelte einen Plan. Das waren sie nicht gewohnt. Fraglich bleibt, ob man tatsächlich von einem Plan sprechen kann, ob der Pottwal wirklich so weit dachte. Man weiß, dass Pottwal-Bullen in der Paarungszeit auf Kämpfe eingestellt sind und sich heftige Duelle liefern. In diesen Wochen gelten sie als äußerst aggressiv. Es ist nicht auszuschließen, dass der Pottwal die Essex für einen rivalisierenden Bullen hielt, was nichts an seinem völlig atypischen
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