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Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Titel: Nachrichten aus einem unbekannten Universum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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unbekannten Ozean, der Osterinsel entgegen, die man jedoch nie erreicht. Stattdessen treiben die Boote ab. Weit und breit ist kein Land zu sehen, die See wird rauer und der Hunger unerträglich, erste Todesfälle sind zu beklagen.
    Wie ein Gespenst dämmert eine Idee herauf, so ungeheuerlich, dass es zu heftigen Auseinandersetzung unter den Seeleuten kommt. Doch am Ende »sind Menschen Fleisch«, wie der Psychologe Dr. Suedfeld erklärt, der sich mit der tragischen Geschichte der Essex beschäftigt hat. »Und wenn man lange genug gehungert hat und plötzlich 100 oder 120 Kilo davon vor sich liegen hat, kommt bald der Gedanke ans Essen.«
    Anfangs verspeist man die an Erschöpfung Verstorbenen. Doch die Männer sind zäh. Sie klammern sich ans Leben, sodass die neue Ressource nicht ausreicht. 78 Tage, nachdem sie das Wrack der Essex verlassen mussten, unterbreiten einige der Männer einen neuen Vorschlag. Es besiegelt, wie es ein Überlebender später ausdrückt, den Verfall jeder christlichen Ordnung. Pollard rast vor Wut und Schmerz, zumal das Los auf seinen Cousin fällt, aber schließlich muss er sich dem Votum beugen, und der Auserwählte — im Einverständnis mit seinem Schicksal — wird getötet und gegessen. Gottes Plan, sagt Owen Chase später, ist an diesem Tag gescheitert, die göttliche Ordnung wurde umgeworfen.
    Am 18. Februar 1821 hat die Irrfahrt ein Ende. Erst erreicht Chase’s, dann Pollards Boot die südamerikanische Küste. Monate später bricht ein Schiff nach Henderson Island auf und rettet die dort Zurückgebliebenen. Die schrecklichen Ereignisse verfolgen Pollard und Chase bis an ihr Lebensende. Der eine scheint fortan vom Unglück verfolgt und endet als Leuchtturmwärter in Nantucket. Chase kann im Walfang wieder Fuß fassen, verbringt seine letzten Lebensjahre jedoch geistig verwirrt zwischen Bergen gehorteter Lebensmittel.
    Ich habe lange überlegt, was man im Jahr 2006 über Wale schreiben kann. Soll man sie weiter mystifizieren, um sie noch besser zu schützen? Oder sich ihrem wahren Wesen nähern, was sie dann allerdings eher entzaubert? Sind die aktuellen Bestände von Interesse? Nützt es, jeden einzelnen Vertreter der Waltiere in allen Facetten zu porträtieren, um ihre beeindruckende Vielfalt darzustellen? Prangert man wie gewohnt Japan und Norwegen an, oder bemüht man sich um Ausgewogenheit und Toleranz? (Nebenbei, es gibt auch etliche andere Völker, die ein Recht auf Walfang anmelden, darunter Indianer und Inuit.)
    Ich habe mich letztlich entschieden, eine fast zweihundert Jahre alte Geschichte zu erzählen, weil sie ein paar unverrückbare Wahrheiten birgt. Dazu gehört, dass je nach den Umständen jeder zum Gejagten und zur bloßen Ressource werden kann. Und jeder zum Jäger. Dass es meines Erachtens unsinnig ist, ein vollkommenes Walfangverbot durchzusetzen, andererseits ein Verbrechen, Lebewesen über alle ethischen und ökologischen Grenzen hinweg abzuschlachten und jedes Moratorium mit Verweis auf die Wirtschaft zu unterlaufen. Dass wir uns den Walen noch einmal ganz von neuem nähern müssen, befreit vom Ballast cartesianischer Ignoranz einerseits und esoterischen Schwulstes andererseits. Weder mit kaltem Profitdenken noch pseudoreligiöser Verehrung tun wir den Meeressäugern Gutes. Es ist einem ausgeglichenen Leben nicht förderlich, zugleich vergöttert und gehasst zu werden. Schimpansen, die uns viel näher stehen als ein Orca oder Tümmler, polarisieren längst nicht so, werden weder bis an den Rand der Ausrottung gejagt noch mit Erschauern und Ehrfurcht betrachtet. Niemand käme auf die Idee, ein Mastochse könne geheimes Wissen über den Urgrund der Welt zwischen den Hörnern bunkern, er wird wie selbstverständlich zu Steaks und Lederjacken verarbeitet. Wiederum begegnet niemand einem Schwein mit solcher Verachtung, wie Wale sie von manchen Walfängern zu spüren bekommen. Was, fragt man sich, haben die Säuger bloß verbrochen, dass sie zum Spielball rohester wie edelster Absichten geworden sind und jeder sie für seine Zwecke durch den Reifen springen lässt?
    Wenn wir zurückdenken, weit zurück, sehen wir Pacicetus und Ambolucetus vor uns. Somit wissen wir schon mal, dass Wale nicht in Raumschiffen landeten, sondern triefnasse Landbewohner waren: Tiere. Fassen wir unsere eigene Vergangenheit ins Auge, begegnen wir als Urvater Lurchi — auch nicht eben ein Riese an Intelligenz. Mit einiger Sicherheit haben die Menschen das Rennen gemacht; wir sind

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