Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Titel: Nachrichten aus einem unbekannten Universum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
Vom Netzwerk:
der Pottwal im wortwörtlichen Sinne seinen Kopf ein. Etwas darin, eine merkwürdige Substanz, hat schon vor einigen hundert Jahren die Walfänger auf den Plan gerufen: das so genannte Walrat.
    Überhaupt ist der Kopf des Pottwals etwas ganz Besonderes. Ein wahrer Quadratschädel, kastenförmig und so lang, dass er über 30 Prozent der Körperlänge ausmacht. Lächerlich schmal wirkt dagegen der zahnbewehrte Unterkiefer — Pottwal-Oberkiefer sind zahnlos, verfügen stattdessen über kleine Einbuchtungen, in denen der Wal die unteren Zähne passgenau einparken kann. Auch ein Gehirn hat Platz in dem Containerkopf. Mit fast zehn Kilo Gewicht ist es das größte Gehirn im ganzen Tierreich. Vorsicht allerdings, von Größe auf Intelligenz zu schließen. Erst muss man wissen, warum das Hirn so riesig ist, sprich, welche Funktionen es steuert. Zahnwale — im Gegensatz zu Bartenwalen — verfügen über die Gabe der Echoortung, was gewisse Kapazitäten in den neuronalen Netzen erfordert.
    Den meisten Platz im Pottwalschädel nimmt jedoch besagtes Walrat ein: eine zähe, wachsartige Flüssigkeit, die Walfänger früherer Generationen für Sperma hielten, weshalb Pottwale im Englischen immer noch Sperm whaks heißen. Na, herzlichen Glückwunsch. Dass Männer nur Sex im Kopf haben, ist ja bekannt, aber bis zu zwei Tonnen?! Nein, mit den Freuden der Ejakulation hat die Substanz wenig zu tun. Nach wie vor wird darüber spekuliert, wozu sie dient. Möglicherweise stützt sie einfach die Schädelstruktur, damit der Pottwal Nebenbuhler und Schiffe in Grund und Boden rammen kann — in Rivalenkämpfen prallen Pottwale oft wie Rammböcke aufeinander. Wahrscheinlicher ist indes eine andere Theorie: Ihr zufolge kann der Wal die mittlere Dichte des Rats durch Zuführung von Wasser verändern und seinen Kopf damit schwerer machen. Das hilft ihm, senkrecht und mit hoher Geschwindigkeit abzutauchen, ins ewige Dunkel zu seinen geliebten Glibberlingen. Bis 3.000 Meter tief gelangen Pottwale, wo sie über eine Stunde bleiben können, um sich Prügeleien mit Riesenkalmaren zu liefern.
    Andere Walforscher glauben, das Walrat helfe, die Lunge des Pottwals leer zu pumpen, bevor er taucht, außerdem, um Stickstoff zu absorbieren, der unter hohem Druck im Blut ausperlt. Wieder andere vermuten, die Flüssigkeit spiele eine Rolle bei der Echonavigation. Ganz sicher ist niemand. Nur dass der Pottwal wegen seines Rats, der zur Kerzenherstellung diente, bis an den Rand der Ausrottung bejagt wurde, steht fest.
    Zu Hause sind Pottwale in allen Weltmeeren, allerdings bevorzugen sie tropische und subtropische Regionen. Vor der Ära des Walfangs müssen Verbände von mehreren hundert Tieren die Ozeane durchstreift haben, heute umfassen die Schulen bis zu zwanzig Individuen, vornehmlich Weibchen samt Nachwuchs. Geschlechtsreife Männchen tun sich mit anderen Männchen in Herrenrunden zusammen und statten den Damen nur zur Paarungszeit Besuche ab. Dann aber legen sie sich gleich einen ganzen Harem zu. Alte Pottwal-Herren verbringen ihren Lebensabend hingegen als Einzelgänger, immer noch mit zwei Tonnen »Sperma« im Kopf. Schon gut, nicht als Pottwal in die Jahre zu kommen.
    Im Idealfall wird ein Pottwal 75 Jahre alt, vorausgesetzt, man lässt ihn so lange leben. Doch das war in den letzten hundert Jahren nicht der Fall. Etwas anderes, höchst Erstaunliches ist dafür eingetreten. Seit das Walfangmoratorium von 1985 in Kraft trat (Spötter sprechen von halber Kraft), scheinen Pottwale insgesamt kleiner geworden zu sein! Nanu? Liebling, ich habe die Wale geschrumpft? Die schrumpfen aber nicht so einfach. Schließlich hat Owen Chase, der überlebende Erste Offizier der Essex, die Länge des Bullen, der sein Schiff versenkt hatte, auf 25 Meter geschätzt, und es gibt keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Andere Walfänger jener Zeit bestätigen solche Formate.
    Die Sache erklärt sich wie folgt: Wenn Vertreter einer Spezies plötzlich kleiner werden, sind sie im Allgemeinen überjagt. Das heißt, man hat begonnen, auch halbwüchsige Tiere zu erlegen, weil die Großen alle sind. Das schränkt die Nachwuchsquote ein. Was dennoch nachwächst, wird in noch jüngeren Jahren weggeputzt. Die Spirale führt unweigerlich nach unten. Inwieweit ein völliges Verschwinden des Pottwals ökologische Umwälzungen zur Folge hätte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ohne sie würden die Tintenfische eine große Party feiern, dem Tintenfischgott danken und enorm viele

Weitere Kostenlose Bücher