Nachrichten aus einem unbekannten Universum
hätte er kaum empfohlen, eine zerstoßene Mixtur aus gekochten Schweineschwänzen, Wasser, gequollenen Bohnen und angekokel- tem Seepferdchen auf der Glatze zu verteilen oder sie, vermischt mit Gewürzen und Fett, oral zu konsumieren. Plinius hat ebenso an die Wirkung von Seepferdchen geglaubt, wie man in China seit Jahrtausenden die kräftigende Wirkung von Seepferdchentee preist. Schon die alten Dynastien kannten eingelegtes, getrocknetes, zermahlenes, geröstetes, in der Sonne gebleichtes und sonst wie malträtiertes Seepferdchen gegen Übelkeit, Inkontinenz, Arteriosklerose, Schilddrüsenerkrankung, Hautausschlag, Schlangengift, Insektenstiche, Kopfweh, Leberschaden und Tollwut. Abendländischen Ärzten des Mittelalters galt Hippocampus, wie Plinius das Pferdchen nannte, vermengt mit Rosenöl als fiebersenkend. Auf den Philippinen wird Seepferdchenbrühe gegen Atembeschwerden getrunken, allerdings nur, wenn sie aus dem Maul des Tiers gewonnen wurde. Bloß nicht aus dem Ringelschwanz! Der haut Nieren- und Gallensteine zu Klump. Seepferdchen-Rückenkamm hingegen, in winzigen Stückchen genossen, bringt müde Männer dazu, schnaubend mit dem Schweif zu wedeln. Auch steigert er die Produktion von Muttermilch, jedenfalls nach Ansicht englischer Ärzte des 18. Jahrhunderts. Überdies empfehle sich Seepferdchenblut zur Behandlung der Gicht, noch mehr als die frisch herausgerissenen Herzen von Kanarienvögeln. In Deutschland und Frankreich sah man gar Lahme wieder laufen, nachdem sie Hippocampus-Kopf gemummelt hatten, und die Prostata war nach Genuss gelber Seepferdchen wie neu. In Taiwan hingegen ist das Seepferdchen so eine Art Red Bull der Meere. Da wird einfach der Schwanz abgetrennt und das ganze Tierchen ausgenuckelt wie ein Powerdrink.
Haben wir etwas vergessen?
Ach ja, Glücksbringer sind Seepferdchen natürlich auch. Modebewusste Asiatinnen tragen sie am Ohr oder um den Hals, in Kinderzimmern wird Utzidutzi damit gemacht. Den Umstand vor Augen, dass jährlich 25 Millionen Seepferdchen den Weg ins Weltgenesungswesen antreten, fragt man sich unweigerlich, warum Miss Evolution sie nicht gleich in Blisterpackungen geschaffen hat. Rund drei Dutzend Nationen greifen täglich zum Hippocampus wie zu Klosterfrau Melissengeist. Auf dem Nachtmarkt in Hongkong hängen Seepferchen kopfüber an der Leine und kosten 12 Dollar das Stück. Man bedenke: ein Allheilmittel für 12 Dollar! Wer fragt da nach Einhörnern?
Bloß, inzwischen macht man sich Sorgen um die Bestände. Ja, was denn? Sollten die etwa vorhaben, auszusterben, die kleinen Biester? Wie sind die bloß auf die Liste der meistgefährdeten Arten gekommen? Wir haben doch nur zu rein wissenschaftlichen Zwecken . ahm . und wegen unserer Kultur . und überhaupt .
Geschenkt.
Andere Frage: Was ist dran am Seepferdchen? Matt darniederliegende Chinesen springen nachweislich auf die Füße nach ausgiebiger Behandlung, deutsche Touristen — »Woanders ist ja alles soooo viel besser!« — bekommen nach Einnahme so genannter SeepferdchenMedizin schmerzhafte Magenkrämpfe, Schweißausbrüche, Pusteln im Gesicht und Nierenkoliken. Des Menschen eigener Urin, predigt uns Carmen Thomas ganz zu Recht, sei ein Wunderelixier. Pipi in allen Ehren, aber kaum ein Europäer, beseelt von asiatischer Heilkunst, dürfte wissen, dass in die fernöstlichen Tinkturen schon mal gerne reingestrullt wird: Knabenpisse gilt Eingeweihten als Grundzutat schlechthin.
Man muss die Sache vertragen. Und dran glauben. Ganz fest dran glauben! Dann erst galoppiert der Lahmste wieder wie ein junges Fohlen.
Dran glauben, das tut auch die Schulmedizin. Nicht an das fabulöse Wirkspektrum eines gehetzten Tierchens, das von den Zehen bis zum Scheitel Wunder im Dutzend vollbringt. Vielmehr weiß man, dass längst nicht alles, was in der traditionellen Medizin Verwendung findet, reiner Humbug ist. Auch der Seepferdchen-Kult verdankt sich letztlich verschiedenen körpereigenen Substanzen, die tatsächlich Wirkung zeigen. Allerlei Tinkturen, Sälbchen, Pasten und Pülverchen aus Asien, Afrika und Südamerika werden ergo von der biopharmazeutischen Industrie gesammelt und genauestens unter die Lupe genommen. Volksmythen finden dabei keinerlei Beachtung. Dass alles, was länglich ist, den Schniedel motiviert, gehört ins Reich feuchter Träume. Was die Forscher fasziniert, ist ganz was anderes: dass sich nämlich im molekularen Chaos ein Mittel gegen Krebs verbergen könnte. Die Natur, so viel steht fest, ist
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