Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Heute sind Afrika, Europa, Amerika, Australien, Asien und etliche Inseln den Fluten im Weg. So nimmt die Distanz zwischen Erde und Mond kontinuierlich zu. Derzeit ist unser Planet in den besten Jahren, soll heißen, ihm bleiben weitere viereinhalb Milliarden Jahre, bis er in die Sonne stürzt. Spätestens dann wird der Mond nur noch ein Pünktchen am Himmel sein, ohne dass jemand sein Missfallen darüber bekunden dürfte. Bis dahin sind wir nämlich längst verdampft, inklusive aller Wölfe, die den entrückten Trabanten noch anheulen könnten.
Schon vorher allerdings wird sich das Verhältnis Erde — Mond gewandelt haben. Wie wir sehen, verzögern die beiden Flutberge die Erdrotation beständig, wodurch sich unser Planet mit jedem Jahr ein bisschen langsamer dreht: 0,002 Sekunden, um genau zu sein. Ein Effekt, der sich summiert. In zwei Milliarden Jahren werden die ständigen Bremsmanöver die Erde so sehr verlangsamt haben, dass sie sich ihre Drehungen nur noch mit Ach und Krach abquält. Was alles ändert! Wer dann eine Nacht durchmachen will, muss 960 Stunden am Stück feiern und saufen. So ein Tag, so wunderschön wie heute, dauert entsprechend lange, aber wahrscheinlich ist allein die Hälfte davon nötig, um den mordsmäßigen Kater auszukurieren. Die längeren Tage und Nächte führen zu extremen Temperaturschwankungen, infolge derer sämtliche Gebirge erodieren und wir unter Kuppeln leben oder in gewaltigen mobilen Städten dem Sonnenlicht hinterherreisen. Voll getankt mit der Energie eines ganzen Monats, ziehen sich Pflanzen nachts in den Boden zurück und leben vom Eingemachten, während Tiere Tag- und Nachtspezies ausbilden, die einander nie begegnen — was praktisch wäre, weil sie dann Höhlen-Sharing betreiben könnten.
Was, fragt man sich angesichts solcher Aussichten, wäre die Erde denn ganz ohne Mond?
Dann hieße sie »Solon«. Jedenfalls nach dem Willen des Astronomieprofessors Neil F. Comins, der das Szenario einer mondlosen Erde in seinem Buch What If the Moon Didn’t Exist?: Voyages to Earths That Might Have Been anschaulich darlegt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist: Theia kollidierte nicht mit der Erde, sondern zog vorbei beziehungsweise kreuzte gar nicht erst auf. Die Erde verleibte sich demnach keine zusätzliche Materie ein, und unser vertrauter Begleiter formte sich nicht aus Trümmern. Karl Enslin hätte den guten Mond nicht besingen können, der so stille geht, was zu den harmlosen Folgen gehörte. Viel schlimmer wäre es, Schuhe kaufen zu gehen: Man bräuchte sechs bis acht Treter, die man alle anprobieren müsste, weil der Mensch vermutlich ein paar Beine mehr hätte. Aller Wahrscheinlichkeit nach gäbe es aber nicht mal Menschen — noch nicht zumindest, weil Miss Evolution die Arbeitsbedingungen auf Solon missfallen hätten, sodass sie allenfalls 100 Millionen Jahre später tätig geworden wäre.
Dazu muss man wissen, dass die Erde vor dem Theia-Zwischenfall ein bisschen flotter rotierte, nämlich etwa dreimal so schnell wie heute. 1.095 Tage hatte ein Jahr. Der höhere Drehimpuls sorgte für heftige Turbulenzen in der jungen Atmosphäre. »Festhalten!«, ist man geneigt, dem Unglücklichen zuzurufen, der auf einer solchen Welt Fuß fassen will, aber da lebte noch niemand. Erst nachdem Theia aufgeklatscht war, begab sich der neu entstandene Mond auf seine elliptische Reise und begann, die rasende Erde abzubremsen, indem er Ebbe und Flut erzeugte. Gleich nach seiner Geburt stand er uns weit näher. Riesig prangte er am Himmel, entsprechend heftige Gezeiten verursachte er, gewaltige Flutberge, die einen regen Nährstoffaustausch zwischen Meer und Land in Gang setzten. Ohne ihn hätte dies kaum geschehen können. Einzig die Sonne wäre als Gezeitenmotor verblieben, doch ist sie uns 400 Mal ferner als der Mond und kaum geeignet, das Meer nennenswert in Bewegung zu setzen. Der Sauerstofftransport zwischen Ozean und Küste zum Beispiel hätte nicht in erforderlicher Weise stattfinden können, um höheres Leben zu begünstigen, das nach dem Siegeszug der Photosynthese primär in den Ubergangszonen vom Wasser zum Land gedieh. Doch selbst ob die Urformen des Lebens, die allerersten Zellen, hätten entstehen können, ist fraglich. Zwar kommt die Russel-Martin-Hypothese (Leben hat sich an unterseeischen Schloten gebildet) ohne Land und Gezeiten aus. Fest verankerte Protozellen konnten auf rein vulkanischer Basis existieren. Doch spätestens als sich die Zellen von der Schlotwand
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