Nachrichten aus Mittelerde
zur Flucht. Er war nun fast zur vollen Mannesgröße herangewachsen und größer und behender als jeder Ostling; und als man ihn und andere Sklaven mit einem Auftrag in die Wälder schickte, wandte er sich plötzlich gegen die Wachen, erschlug sie mit einer Axt und entfloh in die Berge. Die Ostlinge verfolgten ihn mit Hunden, doch ohne Erfolg, denn fast alle Hunde Lorgans waren Tuors Freunde, und als sie ihn eingeholt hatten, wedelten sie mit den Schwänzen und rannten auf seinen Befehl nach Hause. Also kehrte er schließlich zu denHöhlen von Androth zurück und wohnte dort allein. Vier Jahre lang war er ein Geächteter im Land seiner Väter, der in mürrischer Einsamkeit lebte. Sein Name war gefürchtet, denn oft unternahm er weite Streifzüge und erschlug viele Ostlinge, die ihm begegneten. Daraufhin setzte man einen hohen Preis auf seinen Kopf, doch selbst mit Unterstützung der Menschen wagten es die Ostlinge nicht, sich seinem Versteck zu nähern, denn sie fürchteten das Elbenvolk und mieden die Höhlen, in denen es gewohnt hatte. Doch sagte man, dass Tuor seine Streifzüge nicht unternahm, um Rache zu nehmen, sondern dass er vielmehr unablässig nach der Pforte der Noldor suchte, von der Annael gesprochen hatte. Doch er fand sie nicht, zumal er nicht wusste, wo er suchen sollte, und die wenigen Elben, die sich noch in den Bergen aufhielten, hatten nie von ihr gehört.
Jetzt begriff Tuor, obwohl ihm das Glück noch immer günstig war, dass schließlich die Tage eines Geächteten doch gezählt sind, dass seine Zeit immer kurz bemessen und ohne Hoffnung ist. Auch war er nicht willens, einem Wilden gleich, für alle Zeit in den häuserlosen Bergen zu leben, zumal sein Herz ihn fortwährend zu großen Taten trieb. Darin, heißt es, offenbarte sich die Kraft Ulmos. Dieser war über alles unterrichtet, was in Beleriand geschah, und jeder Strom, der von Mittelerde in das Große Meer floss, diente ihm, stromauf und stromab, als Bote. Ulmo pflegte von alters her die Freundschaft mit Círdan und den Schiffbauern im Mündungsgebiet des Sirion. 1 Und Ulmo war es, der zu dieser Zeit vor allem das Schicksal des Hauses Hador verfolgte, denn nach seinem geheimen Entschluss sollte es bei seinen Plänen zur Unterstützung der Verbannten eine große Rolle spielen. Er kannte Tuors Gelöbnis sehr wohl, denn Annael und viele seiner Gefährten waren in der Tat aus Dor-lómin entkommen und schließlich in den tiefen Süden zu Círdan gelangt.
Es geschah also, dass eines Tages, zu Beginn des Jahres dreiundzwanzig nach der Nirnaeth, Tuor an einer Quelle saß, die in der Nähe des Eingangs seiner Behausung aus dem Boden rieselte, und den Sonnenuntergang am bewölkten restlichen Himmel betrachtete. Da überkam ihn plötzlich der Gedanke, nicht mehr länger zu warten, sondern aufzustehen und sich auf den Weg zu machen. »Jetzt werde ich das graue Land meiner Sippe verlassen, die es nicht mehr gibt«, rief er. »Und ich will mich auf die Suche nach meinem Schicksal begeben! Aber wohin soll ich mich wenden? Lange habe ich nach der Pforte gesucht und sie nicht gefunden.«
Mit diesen Worten ergriff er seine Harfe, die er immer bei sich hatte und die er wohl zu spielen wusste. Ungeachtet der Gefahr, die seine klare Stimme in der stillen Ödnis heraufbeschwor, stimmte er ein Elbenlied aus dem Norden an, das das Herz erheben sollte. Und als er sang, begann die Quelle zu seinen Füßen aufzuwallen, sie wurde reicher an Wasser, floss über und ein Bächlein rann geräuschvoll den felsigen Hang vor ihm hinab.
Tuor nahm dies als ein Zeichen, und ohne zu zögern erhob er sich und folgte dem Bach. So stieg er die mächtigen Hügel Mithrims hinab und wanderte in die nördliche Ebene Dorlómins hinaus. Der Bach, dem er nach Westen folgte, wurde beständig breiter, und nach drei Tagen erblickte Tuor im Westen die langgestreckten grauen Kämme der Ered Lómin, die in dieser Gegend von Norden nach Süden verlaufen und den ausgedehnten Küstenstrichen der Westlichen Gestade vorgelagert sind. Auf allen seinen Reisen war Tuor niemals bis zu diesen Bergen gelangt.
Je näher er den Bergen kam, desto zerklüfteter und steiniger wurde das Land, bald begann es unter seinen Fußen anzusteigen, während der Fluss in ein eingeschnittenes Flussbett hinabströmte. Doch am dritten Tag seiner Wanderung, als eine fahleDämmerung hereinbrach, sah er sich einer Felswand gegenüber, in der eine große, runde Öffnung wie ein Tor sich auftat; und der Fluss strömte
Weitere Kostenlose Bücher