Nachrichten aus Mittelerde
weiche Trillern der Harfe, und die Felsen warfen die Töne zurück und vervielfachten sie. Sie schwebten fort, klangen durch die nachtumkleideten Hügel, bis das ganze verlassene Land von süßer Musik erfüllt war. Dennohne dass er es wusste, war Tuor zu den Echobergen von Lammoth gekommen, die den Fjord von Drengist umgeben. Hier war vor langer Zeit Feanor an Land gegangen, und die Stimmen seiner Streiter hatten sich an den Küsten des Nordens, ehe der Mond aufging, zu einem gewaltigen Getöse vereinigt. 4
Ein wundersames Staunen regte sich in Tuor, ließ sein Lied verstummen, und allmählich verklang die Musik zwischen den Bergen, und es wurde still. Da vernahm er inmitten des Schweigens hoch in der Luft einen seltsamen Schrei; und er wusste nicht, von welch einem Wesen er stammte. Zuerst sagte er: »Es ist eine Feenstimme«, dann meinte er: »Nein, es muss ein kleines Tier sein, das in der Einöde klagt.« Doch als er den Schrei zum dritten Mal hörte, sagte er: »Sicherlich ist es der Schrei eines Nachtvogels, den ich nicht kenne.« Doch obwohl er ihm vorkam wie ein Klageruf, verspürte er das Verlangen, ihm zuzuhören und ihm zu folgen, denn der Schrei galt ihm und rief ihn an einen unbekannten Ort.
Am nächsten Morgen hörte er über sich wieder diesen Ruf, und aufblickend gewahrte er drei große weiße Vögel, die gegen den Westwind in die Schlucht hinabstießen. Ihre mächtigen Schwingen schimmerten im Licht der aufgehenden Sonne, und als sie über ihn hinwegflogen, stießen sie laute Klagerufe aus. So erblickte er zum ersten Mal die großen Möwen, welche die Teleri so liebten. Darauf erhob sich Tuor, um ihnen zu folgen, und um besser erkennen zu können, in welche Richtung sie flogen, erkletterte er die Klippen zu seiner Linken. Er stand auf der Spitze, spürte, wie ein kräftiger Westwind ihm ins Gesicht blies und sein Haar um den Kopf flattern ließ. In tiefen Zügen sog er diese prickelnde Luft ein und sagte: »Das erfrischt das Herz wie ein Trunk kühlen Weins.« Doch wusste er nicht, dass dieser frische Wind geradewegs vom Großen Meer kam.Jetzt brach Tuor wieder auf und folgte den Möwen, die hoch über dem Fluss segelten. Allmählich verengte sich die Schlucht wieder, und er kam zu einem schmalen Kanal, der vom Getöse rauschenden Wassers erfüllt war. Tuor blickte hinunter und sah etwas, das ihm wie ein Wunder vorkam: Eine ungestüme Flutwelle kam durch die Enge, prallte auf den vorwärtstreibenden Fluss, und eine mauergleiche Woge erhob sich fast bis zur Spitze der Klippe, gekrönt von Gischthauben, die im Wind flatterten. Dann wurde der Fluss zurückgeworfen, die Flut schoss dröhnend in den Kanal, überflutete ihn, und als sie hindurchfloß, geriet das Geröll im Flussbett donnernd ins Rollen. Also wurde Tuor durch den Ruf der Möwen vor dem Tod in der Flut bewahrt, die wegen der Jahreszeit und des steifen Windes von See sehr hoch auflief.
Erschreckt durch das Wüten der seltsamen Wasser, änderte er jetzt die Richtung und schlug den Weg nach Süden ein. So gelangte er nicht an die langgestreckten Gestade des Fjordes von Drengist, sondern wanderte noch einige Tage durch ein wildes, baumloses Land Der Seewind fegte darüber hin, und alles, was dort wuchs, Kraut oder Busch, wurde durch die Übermacht des Westwindes zu Boden gedrückt. Auf diese Weise überschritt er die Grenzen von Nevrast, wo Turgon einst gewohnt hatte. Endlich und unerwartet (denn die Spitzen der Klippen am Rand des Landes waren höher als die Abhänge dahinter) gelangte er unvermittelt an das steil abfallende, schwarze Ufer Mittelerdes und erblickte das Große Meer, Belegaer, das Uferlose. Und in dieser Stunde versank hinter dem äußersten Rand der Welt die Sonne wie ein riesiges Feuer. Tuor stand mit ausgebreiteten Armen allein auf der Klippe, und eine tiefe Sehnsucht erfüllte sein Herz. Es heißt, er sei der erste Mensch gewesen, der bis ans Große Meer vordrang, und niemand, die Eldar ausgenommen, habe jemals tiefer jenes Verlangen verspürt, das von diesem Meer ausging.
Tuor verweilte viele Tage in Nevrast, und es schien ihm gut dort, denn in diesem Land, im Norden und Osten von Bergen abgeschlossen und nahe der See, war das Klima milder und freundlicher als in Hithlum. Seit langem war er daran gewöhnt, als Jäger allein in der Wildnis zu leben, und er hatte an Nahrung keinen Mangel. In Nevrast herrschte Frühling, und die Luft war erfüllt vom Geschrei der Vögel, die in großer Zahl an den Gestaden hausten oder
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