NachSchlag
einem Steingarten voll bunter Pillen und durchzogen von süßlichen Rauchschwaden.
Tante Irmgard starb und hinterließ Marit einen Batzen Geld, wodurch das Leben für Mutter und Tochter etwas leichter wurde, denn Marit konnte sich nach ihrem zweiten Studium eine eigene Existenz aufbauen und den verhassten Lehrerinnenberuf endlich aufatmend an den Nagel hängen. Und Lea bekam Geld, um ihre Kunst auszuleben und jobbte nur noch nebenbei, meist als Telefonistin, denn ihre Stimme wusste sie beruflich gut einzusetzen, und es machte ihr Spaß, in eine andere Rolle zu schlüpfen, zum Beispiel eben in die der freundlichen charmanten Kundenberaterin.
Die bislang gestochen scharfen, inselartigen Erinnerungen wurden grobkörniger, gleichsam von geringerer Auflösung, obwohl Lea mehr Zusammenhänge zu erhaschen glaubte. Aber diese waren flacher und brachten sie nicht recht weiter, schien ihr …
Dabei fehlten noch wichtige Elemente … ihre Mutter … sie entzog sich ihr, verschwand im Nebel des Schweigens, der Unterdrückung, des Auslöschens und der Nichtakzeptanz.
Lea kam vollends zu sich, glashart war das Erwachen, das Zurückkehren ins Hier und Jetzt, als der alte Lastenaufzug mit einem satten Schlürfgeräusch stoppte.
Er stand still, die Türen öffneten sich automatisch, und Armand tauchte dicht vor der auf der Seite liegenden Lea auf; sie zuckte in einem Angststich zusammen, was eine neue Schmerzwelle in ihren gefesselten, gezerrten Gliedern auslöste.
Sein Gesicht war ernst, düster; es wirkte kantiger denn je.
In seinen Händen hielt er einen grauen Kasten, den sie kannte.
Oh ja. Sie
kannte
diesen Gegenstand.
Ihr Herz schlug auf einmal rasend schnell, was kein Wunder war.
Armand hatte ihr den Kasten nur wortlos zeigen wollen … jetzt stellte er ihn zur Seite und zog sein verschnürtes Opfer aus dem Fahrstuhl.
Für einen Moment konnte die gequälte Lea nur an eines denken, und heiser bettelte sie darum, losgebunden zu werden.
Armands dunkle Blicke glitten über sie.
»Nein«, sagte er.
Aaaaah. Mhmmm. Ja, dieser Moment und Leas Reaktion, ihr Ächzen, Wimmern, allein schon ihre Bitte zuvor … sie, die so stolz war und so selten eine Erleichterung erbat … das entschädigte den Kriminalbeamten doch für so manches.
In der Tiefe seiner Augen erschien ein genießerisches Lächeln.
Er kostete das voll aus, genoss den Anblick Leas, wie sie gekrümmt vor ihm am Boden lag, Hände und Füße auf dem Rücken zusammengebunden. Ihre Brüste wurden in dieser Stellung auch sehr reizvoll präsentiert … aber erotische Empfindungen verbannte Armand jetzt erst einmal in den Hintergrund.
Mit letzter Kraft biss sich Lea auf die bereits wunde Unterlippe und schaffte es, weiteres Flehen zu unterdrücken.
»Weißt du, Lea …«, ja, jetzt, in dieser düsteren Phase nannte er sie weder Süße noch Kleine noch Schätzchen, das war vorbei, und zudem sprach er ihren Namen eisenhart und kalt aus, nicht so freundlich-liebevoll wie zu Anfang. Da hatte er ihr noch echte Chancen gegeben, nur um zu erleben, dass sie diese nicht nutzte, sie allesamt verstreichen ließ als sei sie süchtig nach den härtesten Sanktionen, »du solltest dir wünschen, noch eine Weile nur gefesselt sein zu dürfen.«
Sie keuchte auf.
Ja, materiell wurde das Leben leichter für Lea und Marit, eine Zeitlang, aber ihre tiefen schwärenden Probleme wurden bloß übertüncht, zugedeckt, erstickt, alles war nur blankgeputzte Fassade, nichts sonst. Alle wahren Gefühle wurden unter den Schweigeteppich gekehrt, bis dieser groteske Beulen bildete, die von beiden wiederum geleugnet wurden, und übrig blieben nur leere trockene Emotionshülsen, raschelnd wie Zigarettenpapier. Wenn Mutter oder Tochter über eine der Beulen stolperte, dann pflegten sie auch das umgehend zu vertuschen, zu bemänteln, und Lea blieb das brave Kind, und Marit blieb die liebe Mama, und beide schienen entschlossen, diese Rollen weiterzuspielen … oder waren sie vielmehr dazu
verdammt?
Dabei hatte jede von ihnen längst ihr anderes, geheimes Leben, das ihnen Halt gab. Marit ging mit großer Leidenschaft in ihrem neuen Beruf auf, bildete sich ständig fort, hatte wachsenden Erfolg,
Lea war mehr auf abgedrehte, schräge, skurrile Weise kreativ tätig, doch es gab ihr sehr, sehr viel, wenn auch fast abzusehen war, dass sie sich damit erst einmal wohl nicht würde ernähren können … in der alternativen Kunstszene der Stadt machte sie sich mit ihren vielfältigen, oft auch düsteren
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