Nachschrift zum Namen der Rose
Scharen von Leuten, die als Tante Lisbeth,
Madame Bovary, Wilhelm Meister, Barry Lyndon, Tom Jones
oder Tonio Kröger andere Literaturen bevölkern.
Die Idee zu dem Titel Der Name der Rose kam mir wie
zufällig und gefiel mir, denn die Rose ist eine Symbolfigur von
so vielfältiger Bedeutung, daß sie fast keine mehr hat: rosa
mystica, Krieg der Rosen, Roman de la Rose, die Rosenkreuzer,
die Anmut der herrlichen Rosen, und Rose lebte das Rosen-
leben, la vie en rrrose, eine Rose ist eine Rose ist eine Rose,
Röslein, Röslein, Röslein rot... Der Leser wird regelrecht
irregeleitet, in alle möglichen Richtungen (also in keine)
gewiesen, er kann dem Titel keine bestimmte Deutung
entnehmen, und selbst wenn er die im lateinischen Schlußsatz
angelegten nominalistischen Lesarten voll erfaßt, kommt er
doch eben erst ganz am Ende darauf, nachdem er bereits wer
weiß wie oft eine andere Wahl getroffen hat. Ein Titel soll die
Ideen verwirren, nicht ordnen.
Nichts ist erfreulicher für den Autor eines Romans, als
Lesarten zu entdecken, an die er selbst nicht gedacht hatte und
die ihm von Lesern nahegelegt werden. Als ich theoretische
Werke schrieb, war meine Haltung gegenüber den Rezensenten
die eines Richters: Ich prüfte, ob sie mich verstanden hatten,
und beurteilte sie danach. Mit einem Roman ist das ganz anders.
Nicht daß man als Romanautor keine Lesarten finden könnte,
die
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einem abwegig erscheinen, aber man muß in jedem Fall
schweigen und es anderen überlassen, sie anhand des Textes zu
widerlegen. Die große Mehrheit der Lesarten bringt jedoch
überraschende Sinnzusammenhänge ans Licht, an die man beim
Schreiben nicht gedacht hatte. Was heißt das?
Eine französische Philologin, Mireille Calle Gruber, hat
subtile Schreibspiele (Paragramme) entdeckt, in denen die
simplices (im Sinne der einfachen Leute) mit den simplices im Sinne der Heilkräuter assoziiert werden, und nun findet sie, daß
ich vom »bösen Gewächs« (oder »Unkraut«) der Häresie
spreche. Ich könnte erwidern, daß der Terminus »simplices« in
beiden Fällen die Literatur der Epoche durchzieht, desgleichen
der Ausdruck »böses Gewächs«. Andererseits kannte ich sehr
wohl das Beispiel von Greimas über die doppelte Isotopie, die
sich ergibt, wenn man den Kräuterkundigen als einen »Freund
der simplices« definiert. Wußte ich, daß ich mit Paragrammen
spielte? Es zählt nicht, was ich im nachhinein sage, der Text ist
da und produziert seine eigenen Sinnverbindungen.
Als ich die Rezensionen las, machte es mir besondere
Freude, wenn ein Kritiker (die ersten waren Ginevra Bompiani
und Lars Gustafsson) eine knappe Bemerkung hervorhob, die
William gegen Ende des Inquisitionsprozesses macht (Seite 492
der deutschen Ausgabe). »Was schreckt Euch am meisten an
der Reinheit?« fragt Adson, und William antwortet: »Die Eile.«
Ich mochte diese zwei Zeilen sehr und mag sie noch heute.
Dann aber wies mich ein Leser darauf hin, daß
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auf der folgenden Seite Bernard Gui, während er dem Cellerar
mit der Folter droht, sagt: »Die Gerechtigkeit hat keine Eile, wie
die Pseudo-Apostel meinten, und Gottes Gerechtigkeit kann sich
Jahrhunderte Zeit lassen. « Und der Leser stellte mir die
berechtigte Frage, welche Beziehung ich zwischen der von
William gefürchteten Eile und dem von Bernard gefeierten Man-
gel an Eile habe herstellen wollen. Da ging mir auf, daß hier
etwas Beunruhigendes geschehen war. Der kurze Wortwechsel
zwischen Adson und William hatte im Manuskript noch gar
nicht gestanden, ich hatte ihn erst beim Korrigieren der
Druckfahnen eingefügt: Aus Gründen der rhythmischen
Harmonie (cpncinnitas) brauchte ich noch einen trennenden
Takt, bevor ich dem Inquisitor von neuem das Wort erteilte. Und
während ich William die Eile verabscheuen ließ (aus tiefer
Überzeugung, weshalb mir seine Antwort so gut gefällt), war
mir natürlich ganz entfallen, daß wenig später auch Bernard Gui
von der Eile spricht. Für sich genommen ist Bernards
Bemerkung nichts als eine Redensart, die man von einem
Richter erwartet, eine Phrase wie »vor dem Gesetz sind alle
gleich«. Konfrontiert mit der von William angesprochenen Eile
bewirkt jedoch die von Bernard angesprochene Eile einen
hintergründigen Sinn, und der Leser fragt sich mit Recht, ob die
beiden Personen das gleiche sagen, oder ob der von William
geäußerte Haß auf die Eile nicht doch etwas anderes ist als der
von Bernard
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