Nachschrift zum Namen der Rose
zurückverwandelt oder
auch, sagen wir, Gürteltiere).
Zu meiner Welt gehörte auch die Realgeschichte, und darum
studierte ich so viele Chroniken der Epoche; und während ich
sie studierte, wurde mir klar, daß in meinen Roman auch Dinge
eingehen mußten, an die ich anfangs nicht einmal im Traum
gedacht hätte, wie der Armutsstreit oder die Verfolgung der
Fratizellen.
Ein Beispiel: Wie sind die Fratizellen des 14. Jahrhunderts in
mein Buch gekommen? Eigentlich hätte ich, wenn ich nun
schon eine mittelalterliche Geschichte erzählen sollte, sie lieber
im 13. oder 12. Jahrhundert angesiedelt, wo ich viel besser zu
Hause war. Aber ich brauchte einen Detektiv, nach Möglichkeit
einen Engländer (intertextuelles Zitat), der eine gute Beobach-
tungsgabe und einen ausgeprägten Sinn für die Interpretation
von Indizien haben mußte. Und diese Eigenschaften fanden
sich, wenn überhaupt, nur im Umkreis der Franziskaner nach
Roger Bacon; außerdem gab es eine entwickelte Zeichentheorie
erst bei den Ockhamisten, beziehungsweise es gab sie auch
vorher schon, aber vor Ockham wurden die Zeichen entweder
symbolisch gedeutet, oder man sah in ihnen vorwiegend die
Ideen und Universalien. Erst zwischen Bacon und Ockham
wurden die Zeichen als Mittel zur Erkenntnis der Individuen
benutzt. Folglich mußte ich meine Geschichte ins 14. Jahr-
hundert verlegen, zu meiner großen Irritation, weil ich mich
dort viel schlechter auskannte. Also erneute Studien - und die
34
Entdeckung, daß ein Franziskaner im 14. Jahrhundert, auch ein
englischer, unmöglich den Armutsstreit ignorieren konnte, zumal
wenn er ein Freund oder Anhänger oder Kenner Ockhams war
(nebenbei: ursprünglich sollte Ockham selber mein Detektiv sein,
aber dann habe ich darauf verzichtet, denn als Mensch ist mir der
Inceptor Venerabilis nicht besonders sympathisch).
Warum spielt nun das Ganze ausgerechnet Ende November
1327? Weil im Dezember Michael von Cesena bereits in Avignon
ist (und dies eben heißt in einem historischen Roman eine Welt ausstaffieren: einige Elemente, wie die Anzahl der Stufen, beru-hen auf einer Entscheidung des Autors; andere, wie die Bewe-
gungen Michaels von Cesena, sind abhängig von der wirklichen
Welt, die in dieser Art von Romanen zufällig mit der möglichen
Welt der Erzählung koinzidiert).
November war aber eigentlich noch zu früh. Denn ich mußte
ja auch ein Schwein schlachten. Warum? Ganz einfach: um eine
Leiche kopfüber in einen Schweineblutbottich stürzen zu können.
Und warum das? Weil die zweite Posaune der Apokalypse
verkündet... Und die Apokalypse konnte ich schließlich nicht
ändern, sie gehörte zu meiner Welt. Nun trifft es sich aber (ich
habe mich informiert), daß Schweine erst bei Kälte geschlachtet
werden, und dafür konnte November noch zu früh sein, jedenfalls
in Italien. Es sei denn, ich versetzte meine Abtei in die Berge, um
so bereits ersten Schnee zu haben... Andernfalls hätte
35
sich meine Geschichte durchaus in der Ebene abspielen können,
in Pomposa oder in Conques.
Wie es dann weitergeht, sagt uns die einmal geschaffene
Welt. Alle fragen mich immer, warum mein Jorge in seinem
Namen an Borges erinnert und warum denn Borges so böse ist.
Ich weiß es nicht. Ich wollte einen Blinden als Hüter der Biblio-
thek (das hielt ich für eine gute erzählerische Idee), und Biblio-
thek plus Blinder ergibt eben zwangsläufig Borges, auch weil
die Schulden bezahlt werden müssen. Außerdem waren es spa-
nische Kommentare und Miniaturen, durch welche die Apoka-
lypse das ganze Mittelalter beeinflußt hatte. Doch als ich Jorge
in die Bibliothek setzte, wußte ich noch nicht, daß er der
Mörder war. Er hat das Ganze sozusagen auf eigene Faust
getan. Und man halte das nicht für einen »Idealismus« wie die
Behauptung, Romanpersonen hätten ein Eigenleben und der
Autor lasse sich, wie in Trance, ihr Handeln von ihnen
einge.ben. Dummheiten für Abituraufsatzthemen. Nein, die
Personen sind gezwungen, nach den Gesetzen der Welt zu
handeln, in der sie leben. Anders gesagt, der Erzähler ist der
Gefangene seiner eigenen Prämissen.
Eine andere schöne Geschichte war auch die Sache mit dem
Labyrinth. Sämtliche Labyrinthe, die ich kannte (und ich hatte
die schöne Untersuchung von Santarcangeli durchgesehen),
waren Labyrinthe im Freien. Sie konnten sehr kompliziert sein,
voller verschlungener Windungen. Aber ich brauchte ein
ge.schlossenes Labyrinth (hat man
Weitere Kostenlose Bücher