Nachsuche
woran erinnerst du dich?«
»An nichts«, brummt Noldi. Dann plötzlich: »Doch, ich erinnere mich, Hans hat etwas gesagt. Von einer Forststraße weiter oben.«
»Na also«, sagt Meret, »geht doch.«
Sie steht auf.
»Ich muss in die Waschküche, sehen, was die Maschine macht. Ich habe noch einmal ein Programm durchgelassen. Vielleicht geht sie jetzt auf. Bin gleich wieder da.«
Noldi sieht ihr nach, wie sie durch die Tür verschwindet.
Sie ist eine kräftige Frau, neunundvierzig. Sie lacht und redet laut und hat den Kopf voller brauner Locken, die langsam grau werden. Nach den Geburten hat sie zugenommen, aber ihre Figur ist immer noch beachtlich.
Vor ihrer Heirat war sie Handarbeitslehrerin. Ihre erste Anstellung hatte sie in Marthalen, ihrem Heimatort, nahe bei Winterthur. Damals war sie mit einem Kollegen befreundet, der ein Motorrad besaß, und sie hatte geraucht.
Nach der Heirat gab sie den Beruf auf, und sobald das erste Kind unterwegs war, auch die Zigaretten. Als Einziger hat ihr Jüngster, sehr zu seinem Ärger, ihre Locken geerbt. Er trägt sie stets kurz geschoren, weil er Angst hat, wie ein Mädchen auszusehen. Das will er nicht.
Meret steckt den Kopf noch einmal zur Tür herein.
»Übrigens, der Pauli ist sauer auf dich. Du hast ihm immer wieder versprochen, du nimmst ihn mit, wenn du ausrückst.«
»Aber«, sagt ihr Mann entsetzt, »ich kann ihn doch nicht zu einer Leiche mitnehmen.«
»Natürlich nicht«, antwortet sie. »Aber das wirst du ihm erklären müssen.«
Noldi macht sich ebenfalls Sorgen um seinen Jungen, aber im Moment interessiert ihn nur eines: Hatte die Leiche Schuhe an? Warum hat er nicht darauf geachtet?
Er trinkt den kalten Kaffee, denkt an die Tote im Brombeergestrüpp und ist unendlich glücklich, weil seine Frau lebt. Er stellt die leere Tasse in den Spültrog und rennt in den Keller, wo Meret dabei ist, die endlich geöffnete Waschmaschine zu leeren. Er hilft ihr schnell, die Leintücher aufzuhängen, sagt, schon bei der Tür mit einem verlegenen kleinen Kratzfuß: »Vielen Dank, Frau Oberholzer, mit Ihrem Tipp wegen der Schuhe haben Sie mir sehr geholfen. Ich fahre noch einmal hin.«
»Ausgerechnet vor dem Mittagessen«, bemerkt seine Frau trocken. »Pauli wird noch wütender sein, wenn du nicht rechtzeitig zurück bist. Ich hoffe, du drückst dich nicht.«
Noldi stürzt davon, grunzt etwas Unverständliches. Er muss jetzt in den Wald. Er ist sicher, er wird das alles dort mit anderen Augen sehen.
Er fährt ins Neubrunnertal, stellt das Auto ab, stapft wieder über die Wiese, den Hang hinauf. Der Tag ist immer noch grau, aber zumindest heller als am Morgen. Sie alle, die hier auf und ab gestiegen sind, haben einen Trampelpfad ausgetreten. Geknickte Ästchen markieren den Weg. Die Brombeerranken haben sich noch nicht wieder aufgerichtet. Neben dem Gestrüpp, in dem die Leiche lag, findet er eine Rolle Absperrband, das die Kollegen vergessen haben. Die Fundstelle ist nicht gesichert.
Noldi betrachtet diesmal alles ganz genau, er findet keine Spur von Damenschuhen, so sehr er auch sucht. Wohl kann er den einen oder anderen verrutschten Fußabdruck im nassen, schweren Lehm erkennen. Die stammen eindeutig von den Kollegen. Sie sind zu frisch. Dann, überlegt er, müsste man Zeichen von ihrem Sturz sehen. Auch da ist nichts, keine Schleifspur im Laub, keine abgebrochenen Zweige. Noch einmal kontrolliert er den Boden. Er geht waagrecht zum Hang, Stufe um Stufe höher, stochert im Laub, hebt da und dort ein Ästchen auf, bis er oben beim Forstweg ankommt. Auf ihm wandert er ein gutes Stück in jede Richtung. Die Reifenspuren stammen alle von einem schweren Fahrzeug. Wahrscheinlich wurde hier Holz abtransportiert.
Als Pauli aus der Schule kommt, ist er so beleidigt, dass er kein Wort mit dem Vater spricht. Sonst begrüßt er ihn immer freudig, springt an ihm hoch wie ein junger Hund.
Jetzt schaut er ihn nicht einmal an, sondern stopft das Essen stumm in sich hinein. Sie sind nur zu dritt. Fitzi, die Tochter, ist noch in der Schule.
Meret tritt ihren Mann unter dem Tisch.
»Entschuldige«, sagt Noldi zu seinem Sohn, »dass ich mein Versprechen nicht gehalten habe.«
Da wird Pauli erst recht wütend.
»So gemein«, platzt er heraus.
»Pauli«, sagt Meret warnend.
Sie ist eine liebevolle und großzügige, aber konsequente Mutter, einen solchen Ton duldet sie nicht an ihrem Tisch.
»Ist doch wahr«, mault der Kleine.
Noldi bietet seinem Sohn als Wiedergutmachung
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