Nachsuche
an, mit ihm gemeinsam den Fundort der Leiche zu besichtigen.
»Und wenn du willst«, sagt er aufmunternd, »fahren wir gleich nach dem Essen los.«
Im Neubrunnertal, klettern sie den Hang hoch. Als sie die Stelle erreichen, sagt Pauli enttäuscht: »Aber da ist keine Leiche.«
»Nein, die ist schon in der Rechtsmedizin«, stimmt Noldi zu. Dann sagt er: »Komm, schau mich an, Pauli. Würdest du die tote Frau wirklich sehen wollen?«
Der Junge hebt den Kopf. Seine Augen sind dunkel vor Angst und Entschlossenheit.
»Ja.«
Noldi überlegt, dann sagt er: »Bei dem ersten Toten, den ich gesehen habe, nach einem Verkehrsunfall, habe ich gekotzt.«
Darauf antwortet Pauli ernst: »Ich habe die Großmutti auch gesehen, als sie tot war, und mir ist nicht schlecht geworden.«
»Nein«, gibt Noldi zu, »du hast dich großartig gehalten.«
Plötzlich bricht es aus Pauli heraus: »Ich will Detektiv werden.«
Er sagt es mit fester Stimme. Dabei schaut er so kindlich und verletzbar aus, dass Noldi ihn am liebsten in die Arme gerissen hätte. Er unterdrückt die sentimentale Anwandlung, weil er sich rechtzeitig erinnert, wie peinlich ihm das in dem Alter gewesen wäre.
Außerdem geht ihm durch den Kopf, dass eine alte Frau, die mit siebenundachtzig friedlich in ihrem Bett eingeschlafen ist, im Tod fast noch ein Lächeln auf dem Gesicht, und die halb nackte Leiche in ihrer obszönen Stellung zwei sehr verschiedene Dinge sind. Während er noch grübelt, wie er Pauli das erklären könnte, sagt der Junge: »Da müsste man mit dem Bayj her.«
Noldi antwortet: »Aber der Onkel war mit ihm schon hier.«
Pauli würde ihm gern erklären, dass der Hund da nach einem verletzten Reh gesucht hat. Das ist etwas ganz anderes. Doch er sagt nichts. Sein Vater ist Polizist, kein Jäger, denkt der Junge in einer Art kummervoller Zärtlichkeit. Er, Pauli, aber meint, man müsse als Detektiv auch wie ein Jäger denken.
Nachdem er seinen Jüngsten zu Hause abgeliefert hat, fährt Noldi wie immer am Freitag ins Büro. Es liegt am oberen Dorfende von Turbenthal gleich nach der reformierten Kirche. Das Haus, in dem die Kantonspolizei sich eingemietet hat, gehört einem Bauunternehmen. Der Raum ist durch eine Theke abgeteilt. Vorne stehen drei Stühle und in der Ecke eine verstaubte Plastikpflanze. Im immergrünen Laub hängt ein echter dürrer Ast. Den hat Meret, Noldis Frau, eines Tages dort montiert. »Damit«, sagte sie, »die Pflanze echter aussieht.«
Auf der Theke liegen Berge von Prospekten. Da gibt es Unterlagen über Fahr- und Schleuderkurse, über Hundetraining, Formulare für die Anmeldung zur Fahrprüfung ebenso wie für einen Platz im Altersheim. Hier kann man Bußen bezahlen, damit man dazu nicht nach Winterthur muss. Man kann Diebstähle und Einbrüche melden, Vermisstenanzeigen aufgeben, Hundemarken oder Autobahnvignetten beziehen. Die Kantonspolizei hat im Zuge der Rationalisierung ihre Posten in den Dörfern geschlossen und sich auf Büros in Zürich und Winterthur beschränkt. Deshalb gibt es in Turbenthal nur mehr Schalterstunden. Nachmittags von Montag bis Freitag. Noldi versieht den Dienst hier allein. Nur für die Ferien hat er eine Vertretung.
Es gibt Tage, da kommt niemand, höchstens ein Bekannter auf einen Schwatz, oder Meret, die ihm ein Stück Kuchen bringt, wenn sie in der Migros und beim Ehriker Beck einkaufen war.
Einmal besuchte ihn auch sein Sohn Pauli, der sich dafür in aller Form vom Turnunterricht abgemeldet hatte. Er sagte, er habe eine Vorladung bei der Polizei in Turbenthal. Die Lehrerin war neu und noch unerfahren. Sie wunderte sich, ließ ihn aber gehen. Die Sache flog auf und Pauli fasste eine saftige Strafaufgabe. Er musste einen Aufsatz über seine Vorladung bei der Polizei schreiben. Erst weigerte er sich, aber Meret kannte kein Erbarmen. Er ist ein recht guter Aufsatzschreiber, sein Stil flüssig, seine Schilderung lebhaft und seine Fantasie grenzenlos. So kam es in seinem Aufsatz über den Besuch beim Vater auf dem Polizeiposten auch zu einem Überfall mit einer wilden Schießerei, die sie nur heil überstanden, weil sie sich unter dem Schreibtisch verschanzten.
Noldi lächelt in Erinnerung an die Räubergeschichte seines Sohnes. Pauli wurde von der Lehrerin sogar gelobt, weil sich in dem Aufsatz nicht allzu viele Rechtschreibfehler befanden.
Die Neuigkeit vom Leichenfund hat bereits am Vormittag aus dem Fitnesscenter blitzschnell die Runde gemacht und trägt Noldi am selben Tag noch drei
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