Nachsuche
wurde auf den Bahnsteig geschleudert. Wie durch ein Wunder blieb es bis auf blaue Flecken und Abschürfungen unverletzt. René Bossart weinte, als er seine gerettete Tochter in die Arme schloss. Seine Frau kam vor Schreck im Garten nieder. Aber auch dieses Kind war gesund und munter und brüllte, kaum geboren, wie am Spieß.
Im offenen Land aufgewachsen, hatte Meret am Anfang ihrer Beziehung zu Noldi über das Tösstal nur gelästert. So etwas, sagte sie, das sei absoluter Horror, nichts als auf einer Seite einen Hang, dann eine Wiese, die Straße, Bahnlinie, Wiese, den Fluss, Wiese und wieder einen Hang.
Trotzdem willigte sie ein, mit ihm das Haus in Rikon zu kaufen.
Für Noldi war es seine Heimat. Er hatte sich gerade nach Turbenthal versetzen lassen und wollte eine Familie gründen.
Vor Abschluss des Kaufvertrages fuhren sie nach Rikon, um das Haus noch einmal anzusehen.
Bevor sie wieder ins Auto stiegen, drehte Noldi seine Braut zu sich herum.
»Und, was ist?«, fragte er ein wenig ängstlich. »Kannst du dir vorstellen, hier mit mir zu leben.«
Wenn sie absolut nicht will, dachte er bei sich, müsste er sich wieder versetzen lassen. Das wäre schwierig, die Kollegen würden lachen, aber sollten sie. Es wäre ihm egal. Für diese Frau täte er alles.
Er war frisch verliebt, der Hochzeitstermin stand fest.
Doch Meret warf ihm die Arme um den Hals, küsste ihn heftig auf offener Straße und sagte: »Mit dir gehe ich überall hin, sogar an den Nordpol.«
Jetzt geht Noldi in die Küche. Sie ist leer, das Frühstücksgeschirr bereits abgeräumt. Nur die rotweiß getupfte Tasse, die ihm seine Tochter Fitzi einmal zum Geburtstag geschenkt hat, steht noch auf dem Tisch. Die Kinder sind längst in der Schule, seine Frau rumort irgendwo im Haus. Vor den Fenstern kann man im grauen Himmel die Sonne ahnen. Da wird ihm bewusst, dass er nicht mehr als ein paar Stunden weg war.
Er geht zurück auf den Flur. Die Kellertüre ist angelehnt und dahinter brennt Licht. Er ruft: »Hallo, ich bin’s.«
Meret kommt die Treppe heraufgelaufen.
»Die Waschmaschine spinnt«, sagt sie statt einer Begrüssung. »Ich kriege die Tür nicht mehr auf.«
Dankbar, dass es auf der Welt noch Haushaltsprobleme gibt, küsst Noldi sie auf den Mund.
»Komm«, sagt sie, »ich habe frischen Kaffee gekocht.«
Sie gehen gemeinsam in die Küche zurück. Noldi setzt sich an den Tisch, seine Frau gießt ihm Kaffee ein, er schaufelt Zucker dazu, rührt lange und heftig um. Schweigend.
Das liebt er an seiner Frau, dass sie ihn nicht bedrängt. Sie weiß, er redet, wenn er so weit ist. Aber jetzt braucht er Zeit, um den Fall aus der sicheren Distanz seines Hauses zu überdenken.
Nach einigen Minuten sagt Meret: »Meine Schwester hat schon telefoniert. Aber ich bin nicht ganz schlau geworden aus dem, was sie gesagt hat. Stimmt es, dass ihr eine Leiche gefunden habt, du und der Hans?«
Nach längerer Pause kommt ein Ja.
Meret setzt sich zu ihrem Mann, schenkt sich ebenfalls eine Tasse ein, trinkt, wartet.
»Es ist eine Frau. Sie ist in einem Brombeergestrüpp hängen geblieben. Mit dem Kopf nach unten. Nichts am Leib als einen zerrissenen Slip.«
»Die Ärmste«, sagt Meret. »Weiß man, wer sie ist?«
»Nein.«
Dann kommt Noldi in den Sinn, dass keiner von ihnen auch nur einen Augenblick an die Tote als Person gedacht hat. Für sie alle war sie Objekt einer polizeilichen Untersuchung. Jetzt denkt er, das war einmal eine lebende Frau, und versucht, sie sich vorzustellen.
»Sie muss etwas vorgehabt haben«, sagt er fragend zu Meret. »Spitzenunterhosen zieht man doch nicht ohne Grund an und dazu ein rosarotes Negligé. Glaubst du, das Zeug war für einen Mann gedacht, ihren eigenen, einen fremden, wofür sonst? Und was ist dann passiert? Ist er erschienen? Ist sie ihn in diesem Aufzug suchen gegangen, ihm nachgerannt, hat sie aus irgendeinem Grund den Verstand verloren?«
Meret dreht ihre Tasse in den Händen. Sie überlegt.
»Weiter als ein paar Meter kann sie so kaum gelaufen sein«, sagt sie dann. »Hatte sie Schuhe an?«
Noldi weiß es nicht. Darauf hat er nicht geachtet.
Meret sagt nüchtern: »Du hast dich geschämt.«
»Ja«, sagt Noldi, lauter als nötig.
»Warum eigentlich?«
»Keine Ahnung. Es war so obszön.«
»Außerdem«, fügt er schnell hinzu, »finde ich, ist das ein Fall für Winterthur.«
»Du weißt, dass es an dir hängen bleiben wird«, sagt Meret.
Noldi zuckt mürrisch mit den Achseln.
»Also, denk nach,
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