Nachsuche
Dann sieht er die Post auf seinem Schreibtisch und der Alltag holt ihn wieder ein. Er zieht den Stapel heran und blättert ihn durch. Viel Gescheites ist nicht darunter, Werbung, die Regionalzeitung ›Der Tössthaler‹ sowie ein Kuvert aus Zürich. Noldi reißt es auf, überfliegt es.
Es handelt sich um das Dossier über seinen Schwager, den Jagdaufseher.
Das war eine leidige Geschichte: Hablützel nahm im Spätsommer als Gast an einer Jagd in Buch am Irchel teil. Die Bauern forderten von den Jägern, so viele Wildschweine wie möglich abzuschießen, weil die Tiere große Flurschäden verursachen. Hans hatte Pech und erwischte eine Sau, die er nicht hätte schießen dürfen, weil sie noch säugte. Das ist ein Straftatbestand.
Der Schwager schilderte ihm den Vorfall. Er sagte, er hätte genau aufgepasst. Eine Wildsau, die irgendwo im Unterholz ihr Versteck hat, verlässt es stets nur kurz und kehrt dann rasch zu den Jungen zurück. Hans beobachtete das Tier längere Zeit im freien Feld und schoss erst, als er sicher war, dass es ein Einzelgänger war. Doch wie sich herausstellte, waren ihre Milchdrüsen noch geschwollen. Sie wurden herausgeschnitten und ins Labor geschickt.
Nun ist der Befund zurück mit dem Vermerk, das Verfahren gegen Hablützel sei eingestellt. Das Tier habe zwar in einer Zitze Milch gehabt, in der anderen jedoch nur mehr eine krümelige Substanz, was als Zeichen gilt, dass sie nicht mehr gesäugt habe.
Noldi ist für seinen Schwager erleichtert und will ihm sofort Bescheid geben.
Er greift zum Telefon.
»Glaubst du, dass es einer aus der Gemeinde war?«, fragt Hablützel sofort, als Noldi sich meldet. »Hast du einen Verdacht? Weiß man schon, wer die Tote ist?«
»Das«, antwortet Noldi, »sind viele Fragen auf einmal. Eigentlich rufe ich an, um dir zu sagen, dass die Sache mit der Wildsau vom Tisch ist.«
Hans reagiert kaum.
»Ah ja«, sagt er nebenbei und bohrt sofort weiter, »ehrlich, Noldi, kannst du dir vorstellen, dass es jemand aus der Gemeinde ist? Muss es ja fast. Wer sonst kennt sich im Neubrunner Wald aus?«
»Das hat etwas«, gibt Noldi zu. »Aber so weit bin ich noch nicht. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie vermisst wird. Muss das erst überprüfen.«
Hablützel sagt düster: »Da hinten wohnen ein paar Familien. Kann mir zwar vorstellen, dass der eine oder andere Dreck am Stecken hat. Aber Mord, das ist etwas anderes.«
»Wenn es Mord ist«, wirft Noldi ein. »Auch das wissen wir noch nicht.«
Hablützel widerspricht ihm. »Du selbst hast gesagt, dass sie nicht von alleine dort hingekommen ist.«
»Ja, aber das ist auch schon alles, was zurzeit einigermaßen feststeht. Der Rest ist Spekulation. Aber, Hans, du hast mich auf eine gute Idee gebracht. Ich werde mich bei denen im Tal einmal umhören. Vielleicht haben die irgendetwas bemerkt. Grüß Betti von mir. Ich melde mich.«
Damit legt er auf, wendet sich wieder dem Computer zu und loggt sich in die internen Polizeiberichte ein. Er will schauen, ob in der Umgebung eine Frau vermisst wird, deren Beschreibung auf die Tote passt. Nicht, dass er sich viel davon verspricht. Wenn es so wäre, wüsste er es, aber er will auf Nummer sicher gehen.
Noldi ist kein Freund von Schreibtischarbeit, deshalb begnügt er sich nicht mit den Meldungen im Computer, die alle negativ sind, sondern hängt sich wieder ans Telefon. Er ruft die Kollegen in den Nachbargemeinden an, erkundigt sich, ob sie etwas über eine alleinstehende Frau mittleren Alters mit etwas eigenartigen Lebensgewohnheiten wüssten, Männerbesuche, auffallende Kleidung, Drogen, übermäßiger Alkoholkonsum, irgendetwas.
Nachdem ihm niemand weiter helfen kann, tut er etwas, das eigentlich nicht erlaubt ist.
Er schließt das Büro vor Ende der Schalterstunden, heftet einen Zettel mit seiner Handynummer für Notfälle an die Tür und fährt noch einmal ins Neubrunnertal. Dort geht er von Haus zu Haus und fragt, ob jemandem etwas aufgefallen sei. Ob irgendetwas in den letzten Tagen anders war, und seien es nur Kleinigkeiten. Eine fremde Frau, ein fremder Mann, ein Paar, ein Auto, das da irgendwo an der Straße, in einer Einfahrt für längere Zeit gehalten habe, vielleicht eine leere Weinflasche im Straßengraben.
Niemand weiß etwas, will möglicherweise etwas wissen. Sie zucken die Achseln, schütteln die Köpfe. Einer sagt: »Da fahren dauernd Wagen vorbei bis eins, zwei in der Nacht.«
Noldi muss keine Visitenkarten verteilen mit dem Spruch, falls jemand
Weitere Kostenlose Bücher