Nachsuche
Einerseits weiß er, dass sein Schwager in Kriminaldingen einen guten Riecher hat, andererseits scheint ihm dessen Bauchgefühl allein doch ein zu schwacher Beweis.
Noldi beginnt, Pfefferküsse, Feigen, Datteln und Schokoladetaler über die Nüsse in den Schüsseln zu streuen. Dann schleppt seine jüngere Tochter Netze voll Mandarinen herbei, wie immer die ersten im Jahr, die bei der Familie Oberholzer auf den Tisch kommen. Fitzi freut sich auf den Abend. Sie hat Stefanie Niederöst eingeladen. Die beiden Mädchen sind fast so unzertrennlich wie Pauli und Bayj. Die Freundin darf auch bei Oberholzers übernachten. Platz gibt es genug, seitdem die beiden älteren Geschwister aus dem Haus sind.
An diesem Abend kommt auch Verena mit ihrem Mann und dem Söhnchen auf Besuch. Außerdem sind neben Hans und Betti auch Noldis Schwester und ihr Mann aus Langenhard sowie sein Freund, Franz Notter, eingeladen.
Einzig Peter, der ältere Sohn, hat sich entschuldigt. Er sei an einem Fortbildungskurs im Tessin. Nachdem seine Mutter ihn dazu aufforderte, hat Pauli zwei Schulkollegen eingeladen.
Dann sitzen sie alle um die Tische, knacken Nüsse, streuen Erdnussschalen überall hin, reißen den Grittibänzen Arme, Beine und Köpfe ab und verspeisen dann auch den Rest, dick mit Butter bestrichen.
Stefanie verliebt sich in den kleinen Mark. Sie darf ihn während des Essens halten. Der Junge brüllt wie am Spieß. Dann versucht er, sich Stefanies Ärmel in den Mund zu stopfen. Er schaut sie mit seinen blauen Augen an und schläft schließlich ein. In diesem Moment wirft die Sechzehnjährige ihren gesamten Lebensplan über den Haufen. Sie verzichtet auf die Schauspielerei, will nur eines: ein Kind.
Noldi beobachtet das Leuchten auf ihrem Gesicht, während sie sich über den schlafenden Jungen beugt.
Er erinnert sich, dieses Leuchten auch bei Meret entdeckt zu haben, noch bevor ihr erstes Kind geboren war. Seine Frau war während der Schwangerschaft weicher geworden, innerlicher. Mutterschaft, denkt Noldi, muss eine Erfahrung sein, die wird keine je wieder los.
Später im Bett fragt er sie: »Wie ist es eigentlich, ein Kind zu gebären?«
»Du weißt es«, antwortet sie, »du warst dabei.«
»Doch eher als Zuschauer«, wendet er ein. »Ich habe keine Ahnung, wie es sich für dich angefühlt hat.«
»Du bist so bei dir, wie nie sonst im Leben«, beginnt sie nachdenklich. »Es fordert alles von dir, da gibt es keinen Rest. Und du hast keine Wahl. Du musst dieses Kind auf die Welt bringen, jetzt, ob du willst oder nicht. Das ist eine Erfahrung, die bleibt dir.«
»Auch wenn du das Kind gar nie siehst?«
»Ich glaube schon«, sagt Meret zweifelnd. »Davon weiß ich nichts, das ist mir zum Glück nicht passiert.«
Sie nimmt Noldis Hand.
»Du hast mir nie davon erzählt«, sagt er staunend.
»Nein«, stimmt sie zu. »Dazu hatten wir gar keine Zeit. Wenn du dein Kind dann im Arm hältst, denkst du nicht mehr daran.«
»Aber wenn du es nie in den Arm nehmen kannst«, beharrt er.
»Dann ist die Erfahrung bei der Geburt das Einzige, was dir bleibt.«
Noldi denkt über diesen Satz von Meret lange nach. Endlich fasst er einen Entschluss.
Am nächsten Abend fängt er nach dem Essen seinen Jüngsten ab, bevor der zum Fernseher verschwinden kann.
»Heute gibt es ein Diktat«, sagt er.
Pauli schaut ihn verwundert an.
»Wieso, ich bin in Deutsch ohnehin gut«, mault er.
»Frag nicht, sondern komm! Es dauert nicht lange.«
Noldi legt ein vergilbtes Blatt aus einem alten Schulheft vor ihn hin.
»Schreib«, sagt er, »du kannst so viele Rechtschreibfehler machen, wie du willst. Aber einmal muss ein scharfes S drin vorkommen.«
Pauli schaut ihn verständnislos an.
»Das wird ein Brief von einem Kind, das in Deutschland zur Schule geht. Und anders als bei uns gibt es dort das scharfe S, wie zum Beispiel in dem Wort groß.«
Noldi ist selbst von sich angetan, wie flüssig ihm diese Erklärung über die Lippen geht.
Paulis Gesicht verzieht sich zu einem hoffnungsvollen Lächeln.
»Machst du schon wieder etwas, das nicht ganz anständig ist?«, fragt er.
»Ja«, sagt der Vater, »so könnte man es nennen.«
Darauf setzt Pauli sich ohne weiteres Murren an den Tisch und nimmt den Bleistift zur Hand.
»Liebe Mutter«, beginnt Noldi zu diktieren, »heute haben wir in der Schule ein Bild für Muttertag malen müssen. Etwas, das unserer Mutter Freude macht, hat die Lehrerin erklärt. Ich habe nicht malen wollen, weil ich keine Mutter
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