Nacht
Mann in Handschellen, gefolgt von einem weiteren Polizisten. Es ist Tito.
Sein Blick und sein Kopf sind gesenkt, als könnte er dadurch unbeobachtet bleiben. Doch alle glotzen ihn an. Er ist ganz in Schwarz gekleidet, Hemd, Hose und Jacke. Sehr elegant.
Als der kleine Zug an unserer Bank vorbeidefiliert, steht Abel auf und sieht Tito fest an. Sein Blick beeindruckt mich, eine Mischung aus Traurigkeit und Missbilligung. So ähnlich sehe ich Evan an.
Tito hebt den Kopf und begegnet den Augen seines Bruders. Ein Zornesblitz zuckt durch seine nachtschwarze Iris. Dann wandert sein Blick zu mir. Er versucht zu verstehen, was meine Person für eine Rolle in seinem Katastrophenfilm spielt. Ob er mich erkannt hat? Ich halte die Luft an und hoffe, dass er mich nicht mit Naomi und seiner Verhaftung in Verbindung bringt.
Schließlich sieht er zu Boden. Seine Lippen krümmen sich zu einer Sichel, die nichts mit einem Lächeln gemein hat. Dann fixiert er mich wieder, hebt seine von den Handschellen beschwerten Hände und malt mit dem linken Zeigefinger das Kreuzzeichen.
Mir wird schwindelig. Der Kopf schwirrt mir von bösen Vorahnungen, ausgelöst durch Naomis Worte:
Er hat dich bemerkt …
Der Polizist hinter Tito greift nach dessen Händen und drückt sie ihm an den Körper, dann stößt er ihn vorwärts.
»Geh weiter!«, befiehlt er.
Abel verabschiedet sich mit einer Geste und folgt seinem Bruder und den beiden Polizisten. Ich bleibe stocksteif sitzen, bis eine Hand an meiner Schulter mich auffahren lässt.
»Alma, was ist los?«
Als ich mich umdrehe und dem aufmunternden Blick von Sarl begegne, möchte ich am liebsten weinen.
»Nichts. Tito ist gerade vorbeigegangen.«
»Komm mit, wir reden woanders darüber.«
Ich folge ihm durch den Korridor zu seinem Büro. Inzwischen bin ich hier beinahe öfter als zu Hause. Wir setzen uns einander gegenüber, wie immer.
»Ich hatte dich schon erwartet. Du hast vermutlich die Zeitungen gelesen.«
»Ja, und ich wollte Ihnen unbedingt danken.«
»Das brauchst du nicht. Das gehört zu meinem Beruf.«
»Ich weiß, aber Sie haben mir geglaubt und sind meinen Hinweisen nachgegangen. Sie hätten auch anders reagieren können.«
»Ich habe auf dich gehört und gut daran getan. Du hattest recht.«
»Haben Sie die erhofften Beweise gefunden?«
»Dieses Souterrain war wirklich das reinste Gruselkabinett, Alma …«
»Ich habe davon gelesen.«
»Die Zeitungen haben nur einen Teil unserer Informationen veröffentlicht. Zuerst will ich klar sehen und feststellen, ob diese Sekte in Verbindung mit einem größeren Netz steht und ob sie in die Morde involviert ist.«
Er kann nicht wissen, dass ich eine neue Geschichte geschrieben habe, obwohl Tito im Gefängnis sitzt, und dass es also vielleicht einen neuen Mord geben wird.
»War etwas dabei, mit dem Sie Tito für das festnageln können, was er Naomi angetan hat? Ein Kruzifix zum Beispiel?«
»Leider nichts Konkretes. Es gab mehrere Kruzifixe, die umgedreht an den Wänden hingen. Auch ein sehr großes aus Holz mit zwei an den Horizontalbalken genagelten Ziegenhufen. Ich lasse sie gerade untersuchen. Bisher scheinen sie nur Spuren von Tierblut aufzuweisen.«
»Mein Gott.«
»Wir haben Überreste von verschiedenen Tieren gefunden, vor allem von Kaninchen, Lämmern und Hühnern. Und es gab schwarze Katzen in kleinen Käfigen, die sie für ihre Opfer benutzt haben. Sie haben sich dort unten einen richtigen Altar gebaut, aus Holzbrettern und Ziegelsteinen von der verlassenen Baustelle. Es lagen sogar Paramente darauf, sicher aus irgendeiner Kirche gestohlen, und außerdem …«
Ich sehe ihn fragend an.
»Bist du sicher, dass du das wissen willst?«
Ich nicke.
»Du darfst aber niemandem etwas davon sagen. Das sind neue, gerade erst bestätigte Beweise.«
»Ich verspreche es.«
»Man hat Teile von einem Gehirn gefunden … einem menschlichen Gehirn.«
Ich schlage die Hände vor den Mund.
»Manche dieser Sekten führen Rituale mit Gehirnen durch, die sie aus kürzlich bestatteten Toten herausschneiden.«
»Das ist widerwärtig!«
»Verstehst du jetzt, über was für eine Sorte von Leuten wir reden?«
»Glauben Sie, dass sie Naomi dorthin gebracht haben?«
»Möglich ist es, aber das kann ich dir erst nach den biologisch-chemischen Analysen genauer sagen. Jetzt erzähl du mal. Du wirkst bedrückt.«
Wo fange ich an? Bei Tito? Bei Agatha? Oder bei der letzten Geschichte, die ich geschrieben habe?
»Tito. Ich glaube, er
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