Nacht
Jemand kommt ins Haus.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. Es ist elf.
Das kann nicht Agatha sein, es ist noch zu früh.
Ich schließe kurz die Augen, vollkommen panisch. Man darf mich hier drin nicht entdecken. Aber runter kann ich auch nicht mehr. Ich kann nicht mehr raus. Ich versuche, eine der Türen im Flur zu öffnen, doch auch die sind alle verschlossen, verdammt. Also husche ich ins Zimmer der Tante zurück und verstecke mich unterm Bett, zwischen Schachteln und anderen Sachen, mit denen ich jede Berührung vermeide.
Mein Herz rast. Ich kneife in dem staubigen Dämmerlicht die Augen zu, wie Kinder es tun, um die Alptraummonster zu verscheuchen. Nur dass dies kein Traum und keine Einbildung ist. Und ich kein Kind mehr bin.
Die Schritte kommen näher. Dumpfe Schritte auf dem Teppichboden des Flurs, wie das dumpfe Pochen eines Schmerzes. Undeutlich erkenne ich ein Paar Schuhe an der Tür. Sie kommen zu mir, kommen zum Bett. Als sie direkt vor meiner Nase sind, unterdrücke ich einen Aufschrei: Es sind Turnschuhe.
Und sie sind rot.
Agathas Schuhe.
Verflucht.
Ich habe das Gefühl, dass ich hier nicht lebend herauskomme.
Über mir beginnt Agatha, mit ruhiger Stimme und ohne Pausen zu sprechen, horrormäßig. »Ja, Tante, ich bin heute früher zurück. Der Unterricht war langweilig, wie immer. Außerdem muss ich mich doch um dich kümmern, wie du weißt. Ich muss die Behandlung zu Ende bringen, damit du für alle Ewigkeit schön und jung bleibst. Und niemand uns mehr trennen kann. Ich weiß, dass du die Injektionen nicht magst, aber das sind jetzt die letzten. Wir haben es fast geschafft.«
Der Sprungfederrahmen unter der Matratze ächzt. Agatha hat sich auf die Bettkante gehockt. Ich zucke zusammen. Sie ist komplett verrückt. Injektionen? Was denn für Injektionen? Was spritzt sie ihr?
Was …
haben wir fast geschafft?
»Sei ganz ruhig, liebe Tante. Ich bin bei dir. Ich bereite jetzt die Ampullen vor und komme gleich wieder. Dauert nur einen Moment.«
Unter dem Bett höre ich das Schmatzen eines Kusses. Mir wird speiübel, aber ich beherrsche mich. Wenn Agatha mich bemerkt, bin ich erledigt.
Der Sprungfederrahmen quietscht, als ihr Gewicht sich hebt. Die Turnschuhe entfernen sich, und dann, ganz plötzlich, steht die graue Katze in der Tür. Sie schnuppert die Luft und kommt langsam herein.
Auf mich zu.
Ich sehe ihre runden Pupillen.
Lautlos wedele ich mit den Händen und ziehe alle möglichen Grimassen, um sie zu verscheuchen, aber sie schleicht weiter in meine Richtung. Verflixtes Mistvieh.
»Was ist los, Katze?«
Agatha hockt sich hin, um sie zu streicheln, worauf das Tier sich katzbuckelnd und mit dem Schwanz in Form eines Fragezeichens an ihr reibt.
Ich zittere vor Anspannung.
Agatha steht wieder auf, die Katze auf ihrem Arm. »Komm mit, während wir die Medizin für die Tante mischen, gebe ich dir zu fressen.«
Die Katze will sich ihrem Griff entwinden, gibt dann aber nach und schmiegt sich in die Armbeuge ihres Frauchens. Von dort aus wirft sie mir einen Blick zu, als würde sie mir zu verstehen geben, dass sie mich diesmal verschont hat.
Ich höre Agatha die Stufen hinuntergehen.
Das war knapp.
So leise, wie es nur geht, krieche ich aus meinem Versteck und schleiche zur Treppe. Aus der Küche dringen Geräusche herauf. Langsam, mit gespitzten Ohren und wachsamem Blick steige ich ins Erdgeschoss. Ich darf mir keinen Fehltritt erlauben.
»Hier bitte, Katze …«
Auf den letzten Metern nehme ich zwei Stufen auf einmal. Unten angelangt, spähe ich nach rechts in den Flur zur Küche, um mich zu vergewissern, dass Agatha noch dort ist.
In diesem Moment höre ich sie vom Ende des Gangs her pfeifen. Sie kommt auf die Treppe zu. Ich werfe mich zu Boden und verstecke mich unter dem erstbesten Dielentisch.
Sie taucht mit einer Spritze in der Hand auf. Geht die ersten Stufen hinauf. Dann bleibt sie stehen. Die Furcht nagelt mich auf dem Fußboden fest.
Ich höre Agatha prüfend die Luft einziehen. Und einen Schritt rückwärts machen. Erschrocken schnuppere ich an meinem Handgelenk: das Parfüm, das Lina mir aufgesprüht hat. Sie hat es gerochen. Jetzt wird sie gleich umkehren und mich entdecken.
Was ist in dieser verdammten Spritze? Ich will es gar nicht wissen. Ich halte den Atem an. Gleich falle ich in Ohnmacht.
Fünf Sekunden vergehen.
Zehn.
In der Küche miaut die Katze und beginnt, etwas zu fressen, etwas Knuspriges.
»Die sind gut, die Kroketten,
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