Nacht
stimmt’s?«, ruft Agatha durch ihr leeres Haus.
Sie steigt weiter die Treppe hinauf, und mein Herzschlag setzt wieder ein.
Ich warte noch ein paar Sekunden, bis ich sie das Zimmer der Tante betreten höre. Ohne mich auch nur aufzurichten, husche ich zur Kellertür. Endlich atme ich wieder normal. In dem Halbdunkel sehe ich fast nichts und kann nur beten, dass ich auf der schmalen Treppe nichts umwerfe. Ich erreiche das Fensterchen, schiebe mich hindurch und bin draußen.
Das Sonnenlicht sticht mir in die Augen.
Ich nehme meinen Rucksack und meine Jacke, die ich im Gras deponiert hatte, und hoffe inständig, dass Agatha mich nicht vom Fenster aus sieht. Hastig sause ich über den Muschelpfad und stoße die Pforte auf. Ich bin sicher, jede Sekunde Agatha hinter mir herbrüllen zu hören, dass ich stehen bleiben soll, aber nichts passiert.
Auf der Straße beginne ich zu rennen wie noch nie in meinem Leben.
Kommissar Sarl! Kommissar Sarl!, denke ich bei jedem Schritt.
Ich muss so schnell wie möglich zur Polizei.
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Kapitel 54
D ie Polizistin Lilia sitzt wieder auf ihrem Platz, fett und abscheulich.
»Der Inspektor ist nicht da«, informiert sie mich mit zufriedenem Hohngrinsen.
»Dann warte ich.«
»Es könnte lange dauern.«
»Ich warte trotzdem«, entgegne ich, kehre ihr den Rücken zu und setze mich auf eine der Bänke im Wartebereich, der heute nicht sehr voll ist.
Nicht weit von mir sitzt ein Junge, vielleicht ein paar Jahre älter. Er war mir beim Hereinkommen nicht aufgefallen, und bestimmt habe ich ihn noch nie zuvor gesehen, und doch hat er etwas Vertrautes. Der Schnitt der Augen, schmal zulaufend, beinahe asiatisch. Asiatisch? Das kann nicht sein! Ich mustere ihn verstohlen, um ihn nicht auf mich aufmerksam zu machen. Seine Haare sind kurz und dunkel, die Haut ist leicht gebräunt. Ein schwacher Duft geht von ihm aus, nach Gewürzen, nach Amber und noch etwas anderem, das ich nicht erkenne. Er sitzt stumm da und starrt vor sich hin. Mit der rechten Hand reibt er sich nervös die Finger der linken. Er beunruhigt mich. Plötzlich dreht er sich zu mir um. Er hat offenbar gemerkt, dass ich ihn beobachte. Sofort sehe ich weg und tue unbefangen. Ich spüre, wie seine Anspannung tsunamigleich auf mich zurollt. Dann blickt er wieder ins Leere, und seine nervöse Energie kehrt zu ihm zurück wie eine geheimnisvolle Macht, die er vollkommen beherrscht.
Kurz darauf kommt ein Polizeibeamter zu unserer Bank und baut sich vor dem Jungen auf.
»Bist du Abel?«
»Ja«, antwortet er, ohne damit aufzuhören, seine Finger zu kneten.
»Du kannst deinen Bruder gleich sehen. Wir kommen hier durch und gehen in das Vernehmungszimmer am Ende des Gangs. Ihr habt eine Viertelstunde.«
Der Junge nickt, und der Polizist verschwindet wieder hinter einer der Bürotüren.
»Verflucht noch mal!«, ruft er aus und schlägt sich mit den Fäusten auf die Knie, dass ich zusammenfahre.
Ich verknüpfe die wenigen Informationen, die ich habe: Tito ist gestern Nacht verhaftet worden; dieser Junge ist wegen seines festgenommenen Bruders hier und sieht Tito ähnlich. Das legt die schreckliche Schlussfolgerung nahe, dass der Typ neben mir Titos Bruder ist!
»Entschuldige«, sagt er plötzlich.
»Wieso?«
»Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Macht nichts.«
Er sieht mich mit seinen Mandelaugen an, die mir jetzt nicht mehr so drohend vorkommen.
»Mein Bruder ist verhaftet worden.«
»Verstehe … Hat er Mist gebaut?«
»Leider ja, wenn ich auch noch nicht weiß, wie großen.«
Wenn er wüsste, dass ich es war, die ihn hat verhaften lassen. Ihn und seine asozialen Freunde.
Der Junge nimmt seinen Kopf zwischen die Hände, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Er scheint zu sammeln, um mit der Situation fertig zu werden.
»Sie haben ihn aus dem Gefängnis hierhergebracht, um ihn noch einmal zu verhören. Anscheinend haben sie neue Beweise gegen ihn. Aber ich will dich nicht mit meinen Problemen behelligen.«
Ich fühle mich kein bisschen behelligt und wünsche mir nur, dass Tito bis ans Ende seiner Tage sitzt.
Die Atmosphäre zwischen uns knistert angesichts unserer gegensätzlichen Wünsche, die auf diesem beengten Raum aufeinanderprallen.
Wir schweigen ein paar Minuten. Um uns herum geht der Polizeirevier-Alltag seinen gewohnten Gang, mit all seinen kleinen und großen Tragödien.
Nach einer Weile kommt der Beamte, der mit Abel gesprochen hat, zurück. Diesmal ist er nicht allein. Hinter ihm geht ein junger
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