Nacht
Geisha neidisch werden könnte, oder diesen Körper, der gertenschlank bleibt, egal, was ich esse. Was wäre das wohl für ein Leben?
Es wäre ein einziger, kolossaler, hoffnungsloser Mist. Denkt darüber, was ihr wollt. Die Wahrheit ist, dass Schönheit eine Art Macht ist.
Die einzige, die ich habe.
Die einzige Wahrheit, meine ich.
»Außerdem gefällt es mir, Macht zu haben …«, sage ich laut und zwinkere mir im Spiegel zu.
Ich sehe mir in die Augen.
Es geht mir wieder besser.
Im Flur begegne ich der wandelnden Schattengestalt meines Bruders Evan. Kaum zu glauben, dass wir verwandt sind. Evan trägt seine vierzehn Jahre mit sich herum wie einen alten Mantel. Er schämt sich dafür. Er wartet, dass die Tage vergehen, reißt sie sich nacheinander vom Leib, als wären es Pflaster. Er hat nur ein einziges Ziel: achtzehn zu werden und endlich tun und lassen zu können, was ihm gefällt. Er hat genug von der Schule und will endlich mit Bi zusammenziehen, seiner festen Freundin, dem einzigen Menschen, mit dem er wirklich spricht oder sich in irgendeiner Weise abgibt.
Evans Haare sind stumpf und leblos, und er trägt die immer gleichen Klamotten. Enge Stretchhosen und abgetragene Sweatjacken, klobige Stiefel und die letzten, zerlumpten T-Shirts. Und auf jeden Fall alles in dunklen Farben. Außerdem ist er ganz wild auf Piercings. Ich glaube, er hat überall welche.
Das neueste Teil ist eine Sicherheitsnadel in seiner Wange.
»Hübsch«, bemerke ich sarkastisch, als ich es sehe.
Keine Antwort. Nur ein schiefer Blick, begleitet von einem Grummeln wie von einem alten Espressokocher, der es leid ist, seine Arbeit zu tun.
Evan weicht mir aus und gleitet an mir vorbei. Zu dieser frühen Stunde hat er schon seine Kopfhörer auf, die ihm mit zweitausend Dezibel Punkrock in die Ohren knallen.
Ich seufze. Nichts zu machen. Ich glaube nicht, dass es an den drei Jahren Abstand zwischen uns liegt oder daran, dass er ein Junge ist. Evan ist ein Wesen von einem anderen Planeten, den noch keiner entdeckt hat. Man kann mit ihm nicht kommunizieren, Punktum.
Er wankt zu seinem Zimmer und schließt sich ein. Ein flüchtiges Bild von seiner Zukunft taucht vor mir auf. Da ist nichts. Nichts als Ärger.
Früher oder später werden die Ereignisse mir recht geben.
Und dann wird niemand mehr was daran ändern können.
Ich ziehe mich schnell an und werfe den Rucksack über die Schultern. Er ist violett, wie das Heft, das ich gestern gekauft habe, und tausend andere Sachen, die mir gehören. Er ist violett, weil alles, was mir gefällt, violett ist.
Ich lasse die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fallen. Ich bin bereit für die Schule.
Heute ist ein Tag der Taufe.
[home]
Kapitel 2
B ei meiner Ankunft ist alles, wie es sein soll. Wenigstens hier.
Draußen beglotzt mich das übliche Grüppchen Jungs, während ich auf dem Weg in den überfüllten Gang im Erdgeschoss bin. Ich spüre ihre Blicke auf mir. Vielleicht, weil ich die weißen Shorts anhabe, die meine Mutter zu kurz für die Schule findet. So wie die mich beäugen, hat sie wohl nicht ganz unrecht. Gut so.
Ich sehe, wie meine schlanken Oberschenkel sich bei jedem Schritt anspannen. Der grüne Linoleumboden hallt dumpf unter meinen schwarzen Lederstiefeln wider.
Ich erreiche den zweiten Kontrollposten, an dem jedes Mädchen nach Betreten der Schule vorbeimuss. Da sind sie. Stehen herum wie immer. Auch Ian starrt mich an. Ab und zu sieht er weg und tut so, als würde er mit seiner Clique über Nichtigkeiten reden. Sieht wirklich gut aus, der Typ, hat aber für meinen Geschmack zu viele Mädchen im Schlepptau. Er erzählt überall herum, dass er ein Date mit mir hätte. Er hält sich für unwiderstehlich.
Er ist es nicht.
Ich werde mir den Spaß machen, mich mit seinem Freund Rubi zu verabreden, dem Außenseiter. Ian kapiert garantiert nicht, wieso. Er wird mir mit offenem Mund nachstarren wie ein großer, dummer Fisch auf dem Trocknen.
Jetzt lächelt er. Ich lächele zurück. Er weiß nicht, was er davon halten soll, glaubt aber, verstanden zu haben. Vielleicht hört er danach auf, sich mit blassen Freunden zu umgeben, damit er selbst besser dasteht.
Und groß herumzuerzählen, was er vorhat.
Hübsch.
Aber ein Loser.
Meine Freundinnen dagegen sind ganz anders, sie sind starke Charaktere. Seline, immer gut gelaunt und neugierig, könnte eine ganze Woche nur mit Shoppen verbringen. Die schweigsame und verschlossene Agatha ist sehr eigenwillig und bestimmt.
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