Nacht
Nacht?
Wie immer helfen mir die wenigen Details nicht weiter.
Auch diese Schilderung hört auf, kurz bevor das Verbrechen begangen wird. Wieder verfolge ich die gesamte Szene, nur das Gesicht des Mörders entzieht sich mir. Warum?
»Okay«, sage ich und beiße mir auf die Lippen. »Es ist nicht klar, wann es passiert, Alma … aber wo könnte dieser Ort sein?«
Eine Turnhalle. Davon gibt es Dutzende in der Stadt, und ich habe keine Zeit, sie alle abzuklappern. In der Geschichte ist von einem H die Rede, dem Leuchtsymbol des Krankenhauses, also muss diese Sporthalle dort in der Nähe sein. Vielleicht finde ich etwas im Telefonbuch …
Da kommt mir eine Idee: Evan. Er trifft sich jede Woche mit seiner Band in einer alten Turnhalle, um zu spielen. Ich könnte ihn fragen. Vielleicht hat er einen Tipp. Hastig lege ich das Heft an seinen Platz im Schrank zurück.
Ich stürze zu Evans Zimmer. Leer. Nichts zu machen. Wenn man ihn mal braucht, ist er nicht da …
Ich gehe in die Küche, wo Jenna gerade aufräumt.
»Weißt du, wo Evan ist?«
»Er probt mit seiner Band.«
»Machst du Witze?« Ich muss ziemlich bestürzt aussehen, denn Jenna guckt mich überrascht an.
»Nein, warum? Das macht er doch jede Woche. Ist etwas passiert?«
»Nein, nein. Ich wollte ihn nur etwas fragen, was ziemlich Wichtiges. Weißt du, wo sie proben?«
»In so einer Turnhalle, glaube ich.«
»Ja, aber wo genau?«
Jenna denkt einen Augenblick nach. »Sie wird wohl nicht weit weg vom Krankenhaus sein, weil er mich einmal gebeten hat, ihn im Auto mitzunehmen.«
»Bist du sicher?« Ich höre, wie meine Stimme zittert.
Es kann nicht diese Turnhalle sein. Evan kann nicht der Musiker aus meiner Erzählung sein … Und wenn doch? Ich muss etwas unternehmen.
»Vielleicht kann Bi dir mehr sagen, ruf sie doch an«, schlägt Jenna vor.
»Hast du ihre Nummer?«
»Sie steht im Adressbuch, das in der Schublade vom Dielentisch.«
Ich sause hin, schnappe mir das Adressbuch und suche mit fliegenden Fingern nach der Nummer.
Ich finde sie und wähle. Es kommt ein Freizeichen.
»Hallo?«
»Hallo, Bi, hier ist Alma.«
»Hallo.«
Wie Evan macht auch sie nicht viele Worte.
»Ich rufe an, weil ich wissen muss, in welcher Turnhalle die Band probt.«
Schweigen.
»Bi, bist du noch da?«
»Ja. Warum willst du das wissen?«
»Weil es um was ganz Dringendes geht, bitte!«
»Na gut. Aber von mir hast du das nicht, verstanden?«
»Verstanden.«
»Du gehst zum Krankenhaus und seitlich daran vorbei, bis zum Hintereingang. Dort beginnt eine lange, breite Straße. Es steht immer so ein Imbisswagen an der Ecke, der die ganze Nacht Brötchen und Sandwiches verkauft. Du musst ein Stück die Straße runter, und rechts kommt dann ein Schild, das auf das Sportcenter hinweist. Dort biegst du in die kleine Seitenstraße ein und folgst ihr bis zum Ende. Die Halle liegt hinter dem Parkplatz und so Gestrüpp.«
»Vielen Dank, Bi.«
»Pass auf dich auf.«
Ohne noch eine Sekunde zu zögern, laufe ich in mein Zimmer und hole meine Jacke. Jennas Fragen schmettere ich mit einem lauten, entschiedenen »Tschüss« ab, dann stürze ich hinaus in die Nacht.
Ich weiß nicht, wie ich zu der Sporthalle kommen soll. Mit dem Bus würde es zu lange dauern, und für ein Taxi habe ich nicht genug Geld. Mir bleibt nur mein altes Fahrrad. Dann bemerke ich ein Mädchen, das gerade sein Mofa parkt. Meine Skrupel dauern nur eine Sekunde. Ich renne auf sie zu und versetze ihr einen Stoß, dass sie hinfällt.
»Tut mir leid, es ist ein Notfall!«
Ich drehe den Zündschlüssel und rase los. Das Mädchen schreit mir etwas hinterher, aber sie ist schon bald nur noch ein verschwindend kleiner Punkt im Rückspiegel.
Ich fahre in hohem Tempo, der kalte Fahrtwind peitscht mir ins Gesicht. Zwischen den Autoschlangen vor den Ampeln hindurchschießend, versuche ich, mit einem Fahrzeug zurechtzukommen, auf dem ich bisher nur wenige Male gesessen habe. Aber das ist egal. Ich muss so schnell wie möglich zu der Turnhalle gelangen. Das ist das Einzige, was ich weiß.
Ich sause am Kleinen Park vorbei, der im Dunkeln wie ein unheimlicher, verzauberter Wald wirkt, und an Gads Frittenbude, die jetzt geschlossen ist, bis endlich das Krankenhaus in Sicht kommt. Das große Leucht-H thront hoch oben auf dem Flachdach. Ich umfahre das Gebäude und halte nach dem Hintereingang Ausschau.
Das Mofa röhrt unter mir. Von einer Art Euphorie erfasst, gebe ich noch mehr Gas. Ich biege in die Straße ein,
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