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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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in der Verpackung. Auf der Arbeitsfläche neben dem Spülbecken, bei den Glasbehältern mit den Etiketten und den chemischen Formeln, sehe ich ein kleineres Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit und der Aufschrift HCHO . Ich zögere, es zu öffnen. Professor K. schärft uns immer wieder ein, den Kontakt mit Chemikalien zu meiden, deren Eigenschaften wir nicht kennen.
    Ich mustere den Verschluss des Fläschchens, der weniger fest zu sein scheint als die anderen, und beschließe, es zu riskieren. Ich will wissen, ob der beißende Geruch in diesem Haus davon kommt. Als ich den Korken herausziehe, schlägt mir ein scharfer, die Schleimhäute reizender Gestank entgegen. Meine Augen fangen an zu brennen, und ich muss mit aller Kraft ein Niesen unterdrücken. Schnell verschließe ich den Behälter wieder und stelle ihn zurück.
    Was zum Teufel ist das für ein Zeug? Jedenfalls scheint der Geruch im Haus zum Teil daher zu rühren.
    Ich gehe zurück und beschließe, mich in das Zimmer von Agathas Tante zu wagen. Langsam steige ich die Treppe hinauf. Durch das Fenster sehe ich Agathas Katze zusammengerollt auf der Veranda liegen.
    Auch hier in der oberen Etage scheint niemand zu sein, weder die Tante noch die phantomhafte Krankenschwester. Sehr seltsam. Noch seltsamer ist, dass der Geruch aus der Küche hier deutlicher und durchdringender wird. Ich halte mir die Nase zu und gehe auf die Tür des Zimmers zu, in dem ich die Tante beim ersten Mal gesehen habe.
    Der Türgriff ist eiskalt. Vorsichtig bewege ich ihn. Die Tür geht auf, und dieser Geruch, noch intensiver, dringt heraus. Kein Zweifel, der Gestank, der das ganze Haus verpestet, kommt von hier. Ich luge hinein.
    Das Zimmer liegt in einem trüben Halbdunkel. Ein paar dünnen Lichtstreifen gelingt es, den dichten, schweren Vorhängen zu entwischen und die staubige Luft zu durchschneiden. Die Frau liegt noch dort, ausgestreckt in ihrem Bett. Ihr Körper zeichnet sich deutlich unter der Decke ab.
    Ganz langsam schleiche ich vorwärts, um sie nicht zu wecken. Der chemische Geruch ist jetzt fast unerträglich. Ich drücke das Gesicht in den Jackenkragen und bekomme kaum Luft. Wie hält es diese Frau nur aus, hier drin zu schlafen und zu atmen?
    Je mehr ich mich dem Bett nähere, desto deutlicher nehme ich etwas Merkwürdiges wahr. Oder besser, ich nehme nichts wahr. Ich höre die Tante nicht atmen. So schwach ihr Atem sein mag, müsste ich ihn doch in dieser Stille hören können.
    Zaghaft strecke ich eine Hand nach ihrem Arm aus, der auf der Decke an ihrer Seite liegt. Ich habe wahnsinnige Angst, entdeckt zu werden, streichele aber dennoch sachte über den Arm. Er ist kalt und glatt wie Marmor. Erschrocken ziehe ich die Hand zurück. Dann versuche ich es erneut, entschlossener. Es fühlt sich scheußlich an. Der Arm ist nicht nur kalt und glatt, sondern auch hart wie Stein. Und genauso reglos.
    »Was zum Teufel …«
    Ich fahre mit der Hand bis hinauf zur Schulter, ohne dass sich die Beschaffenheit dieses Körpers verändert. Er ist hart, steinhart, wie eine Skulptur.
    »Frau Nives?«, flüstere ich. Dann etwas lauter: »Hören Sie mich?«
    Ich übe einen leichten Druck auf ihren Arm aus, um sie aufzuwecken, doch Agathas Tante rührt sich keinen Millimeter und macht auch nicht den Eindruck, als hätte sie mich irgendwie bemerkt. Dann taste ich nach dem Schalter der Nachttischlampe, doch die Lampe geht nicht an. Sie hat keine Birne.
    Vergeblich suche ich nach einer anderen Lichtquelle.
    »Frau Nives, hören Sie mich?« Ich gehe zum Fenster und ziehe die Vorhänge ein Stück auf. Als ich mich wieder umdrehe, sehe ich, was ich längst befürchtet habe. Agathas Tante starrt mich mit weit offenen Augen an, regungslos und schneeweiß.
    »Oh, mein Gott …«
    Ich kehre zum Bett zurück und betrachte sie.
    »Sie ist tot.«
    Ich halte zitternd meine Hand vor ihr Gesicht. Kein Atem.
    Sie ist tot. Agathas Tante ist tot.
    Trotzdem … ihre Haut ist straff und hell, als schliefe sie nur. Sie zeigt keinerlei Flecken oder sonstige Anzeichen von Verwesung, auch keine Falten. Als wäre sie eine Schaufensterpuppe. Eine Statue, ein Block aus …
    Ist das möglich?
    Ist es möglich, dass diese ganzen Chemikalien in der Küche dafür da sind? In meinem Kopf dreht sich alles.
    Mir wird schlecht.
    Furchtbar elend.
    Ich muss hier raus und … anrufen. Irgendjemanden.
    Hastig bringe ich die Vorhänge wieder in Ordnung und will nach unten laufen, als ich ein Geräusch höre. Schlüssel.

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