Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
Vom Netzwerk:
wohl demnächst öfter fehlen, um sich um sie zu kümmern.«
    »Ist es was Ernstes?«
    »Keine Ahnung, aber wahrscheinlich schon.«
    Soweit wir wissen, leidet Agathas Tante an einer Krankheit, die ihr Immunsystem extrem schwächt und sie zwingt, im Haus zu bleiben, um jede Ansteckung zu vermeiden. Sogar eine simple Erkältung könnte sie das Leben kosten.
    »Das tut mir leid.«
    »Mir auch. Es wäre schrecklich, wenn …«
    »Sag’s nicht.«
    Wir wissen beide, dass der Tod ihrer Tante für Agatha unweigerlich das Heim bedeuten würde, zumindest, bis sie achtzehn ist.
    »Gibt es denn niemand anderen, der sich um die Frau kümmern kann, solange Agatha in der Schule ist?«
    Naomi sieht geistesabwesend zu den Klassenkameraden hin, die gerade als Letzte hereindrängen. »Sie hat mir was von einer Pflegerin erzählt, die ab und zu vorbeikommt, aber das genügt nicht.«
    »Hat sie sich deshalb so an Adam ausgetobt?«
    »Ich weiß es nicht, Alma. Ehrlich. Aber mir ist angst und bange dabei geworden.«
    Angst, denke ich.
    Wovor muss man wirklich Angst haben? Vor den eigenen Handlungen oder eher vor dem, über das man keine Kontrolle hat? Davor, einen Jungen mit einem Abwehrspray blind zu machen, oder davor, grundlos eine Tante zu verlieren und in ein Waisenhaus gesperrt zu werden?
    Ich habe keine Antwort darauf. Der Unterricht beginnt, die zigste Literaturstunde.
    Ich weiß jetzt schon, dass ich nicht ein Wort mitbekommen werde.
     
    In der Schulmensa ergeht es mir nicht besser. Ich kann nichts essen. Ich starre auf die Masse von kanariengelbem Püree, das die Konsistenz von Fensterkitt hat und wie der Plastikbeutel riecht, in dem es vorher war. Ich spiele mit den Fleischstückchen, die in einem See aus brauner Soße schwimmen, auf dem auch ein paar traurige Erbsen dahintreiben, grüne Erbsen, so groß wie Traubenkerne.
    »Wenn du das nicht willst, esse ich es.«
    Offenbar habe ich mich heute, ohne es zu merken, neben einen guten Esser gesetzt. Ich kenne ihn. Es ist ein kräftiger Junge, der selbst mitten im Winter im T-Shirt herumläuft, er hat einen Bartwuchs wie ein erwachsener Mann und eine ausgeprägte Leidenschaft für Superhelden. Jede Seite seines Schülerkalenders schmückt er mit ihnen.
    »Bedien dich.«
    Ich habe es kaum ausgesprochen, da senkt er auch schon seine Gabel in meinen Berg von Kartoffelschleim.
    Einen Moment lang freue ich mich an der Gier, mit der er das Essen herunterschlingt, und denke, dass auch das eine Form von Freiheit ist: seinen Hunger zu stillen.
    Ich würde jetzt nicht einmal ein Glas Wasser runterkriegen.
    Seline hat anscheinend auch keinen großen Appetit. Wir haben beide eine Last zu tragen, die sich heute direkt auf den Mageneingang gelegt hat.
    »Ich gehe in den Hof«, sage ich, als ich genug habe.
    Ich hänge mir meine schwarzweiße Tasche um. Sie ist ein Geschenk meiner Mutter. Vielleicht das einzige von ihr, das meinem Geschmack entspricht. Das einzige, das ich ausgepackt habe, ohne zu denken, dass sie es für eine andere Tochter gekauft hat.
    Draußen lasse ich mich von der kühlen Luft durchpusten. Ich setze mich auf eine niedrige Mauer, ein Buch in der Hand, und starre ins Leere.
    Dann sehe ich Adam vorbeigehen. Ruhe scheint wirklich ein seltenes Gut geworden zu sein. Adams Gesicht ist geschwollen, und er trägt einen auffälligen Verband über dem linken Auge. Sein Gang ist anders als sonst: Sein glühender Kampfgeist hat der Resignation Platz gemacht. Er geht vorsichtig, bleibt in einer Ecke des Schulhofs stehen und wartet. Ich bin zu weit weg, als dass er mich bemerken würde. Ich fühle gar nichts, als wäre ich narkotisiert. Ich schlage mein Buch auf und tue so, als würde ich lesen.
    Einen Moment später taucht Morgan auf, er geht zu Adam und sagt ihm etwas. Sie beginnen, miteinander zu tuscheln. Ich wusste nicht, dass sie befreundet sind. Vielleicht war das gestern vor der Schule doch Adam, mit dem Morgan diskutiert hat. Die hinter dem Tor verborgene Person.
    Und jetzt? Worüber reden sie? Über uns? Über gestern?
    Eigentlich ist auch das nicht wichtig. Die einzige Regel lautet: Traue niemandem, nie.
    Ich versenke mich nun doch in mein Buch, es ist ein angenehmes Abtauchen. Nach und nach dringen die Worte zu meinem Gehirn vor, werden von der schwachen Strömung des Blutes weitertransportiert und erreichen die Lunge, das Herz, den Magen, wo sie die Sperre auflösen, die ihn verschlossen hatte.
    Es ist viel leichter, fremde Gedanken zu verdauen als die eigenen.
     
    Beim

Weitere Kostenlose Bücher