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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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anderem.
     
    Das Weckerklingeln ist traumatisch.
    Der Körper reagiert automatisch, aber er fühlt sich zu schwer an, um mir zu gehören. Mein Kopf ist so voll von Bildern, dass er mir leer erscheint, weil ich mich auf keines davon konzentrieren kann. Adam, der Hinterhalt, Agatha, die Schreie, die Geschichte in dem Heft – sie bohren sich wie Dornen in meinen Verstand. Die Angst sitzt mir im Nacken und wird verstärkt von einem leichten, aber beständigen Schmerz.
    Ich öffne das Fenster. Im trüben Licht dieses grauen Morgens leuchtet das violette Heft wie eine bedrohliche Stammesmaske. Es liegt immer noch aufgeschlagen auf dem Bett. Ich muss es verschwinden lassen. Ich entscheide mich für den Kleiderschrank, ganz zuunterst. Kleider, Schuhe, Taschen, alte Plüschtiere, egal was, Hauptsache, niemand findet es. Ich hebe den ganzen Kram an und schiebe es darunter.
    Jetzt brauche ich eine Dusche.
    Im Flur stoße ich auf meine Mutter, die mich so verblüfft ansieht, als hätte es gerade Frösche geregnet.
    »Alma? Was hast du denn letzte Nacht angestellt?«
    »Hab nicht besonders gut geschlafen.«
    Ich vermeide es, sie anzusehen. Meine Haare fallen mir übers Gesicht.
    »Gad kommt heute zum Abendessen.«
    »Ah.«
    Gad ist der neue Freund meiner Mutter. Jenna verfügt in Liebesdingen über einen doppelten Invaliditätsbonus: Sie ist die geschiedene Frau eines Mannes, der nichts taugte (mein Vater), und sie ist Witwe (des Vaters von Lina und Evan). Sie hätte dies weitaus profitabler einsetzen können, aber sie hat sich Gad ausgesucht. Oder besser gesagt, er hat sie ausgesucht, und sie hat es geschehen lassen. Ist einfach mitgetrottet wie eine der Kühe, die ohne Bedenken der Leitkuh ins Schlachthaus folgen. Gad ist ein guter Kerl, das bestreitet niemand. Aber er ist dick und oft verschwitzt. Ihm gehört eine Frittenbude, was bedeutet, dass er rund um die Uhr nach Frittenfett stinkt, sieben Tage die Woche. Zweiundfünfzig Wochen im Jahr. Er ist noch nicht so lange mit Jenna zusammen, als dass ich sagen könnte, ob er auch am 29 . Februar stinkt, dem nur alle vier Jahre vorkommenden Schalttag. Es gibt keine Seife, kein Parfüm, kein Lösungsmittel, das diesen Geruch beseitigen könnte. Sogar sein Bargeld scheint in Öl getaucht worden zu sein.
    Jenna behauptet, sie hätte sich daran gewöhnt. Vielleicht stimmt das, denn der Fettgeruch ist Teil des Pakets »bedingungslose Liebe, wirtschaftliche Unterstützung und totale Verfügbarkeit«, das Gad ihr angeboten hat. Das er uns angeboten hat, denn Evan, Lina und ich sind Teil des Handels, ob es ihm passt oder nicht.
    Fakt ist, dass Jenna sich damit zufriedengibt. Und das ist ein Fehler. Sie ist schon immer eine schöne Frau gewesen, sehr attraktiv. Doch die Schläge, die das Leben ihr verpasst hat, emotionale, psychische Schläge, haben sie geschwächt. Sie haben ihren Blick getrübt und ihren Geruchssinn. Wenn man neben einem Lahmen geht, gewöhnt man sich das Hinken an. Folglich umgibt auch sie seit einiger Zeit ein merkwürdiger Geruch, eine Mischung aus Frittenfett und Medizin, die offenbar schädlich genug ist, um das Blau ihrer Augen und das goldschimmernde Kastanienbraun ihrer Haare stumpf werden zu lassen und die Falten in ihrem Gesicht tiefer einzugraben.
    Im Gegensatz zu Gad wird Jenna von Tag zu Tag dünner. Und ihre Schönheit verblüht.
    Ich sehe sie durch meine Haarsträhnen hindurch an, wie durch schwarze Eisenstäbe. Wer von uns beiden sitzt im Gefängnis? Sie oder ich?
    »Gibt’s Pommes?«, frage ich sarkastisch.
    »Du könntest ab und zu mal ein bisschen mehr Begeisterung an den Tag legen.«
    Ich sage nichts mehr.
    »Schon gut. Ich weiß, dass es dir nicht passt. Aber versuch wenigstens, freundlich zu sein.«
    Sie seufzt und geht weiter.
    Ich bin immer freundlich.
    Im Bad schließe ich mich sofort in der Dusche ein.
    Ich wasche alles ab, was ich nur kann.
     
    Die Straßen der Stadt sind morgens um acht total voll.
    Die Leute gehen schnell, telefonieren, essen, trinken – alles auf einmal, um Zeit zu sparen. Und um nicht zu merken, dass das vollkommen sinnlos ist. Es gibt sogar welche, die joggen, hier, mitten im Verkehr. Mit ihren lächerlichen Hightech-Schuhen und ihren Kopfhörern: Schwitzend und verzerrte Songs im Ohr, reden sie sich ein, sie würden nicht zu diesem Getriebe aus Wahnsinn, Benzin und Elektrizität gehören, das dabei ist, uns in das große Nichts zu stürzen.
    Zum Schleuderpreis obendrein.
    Während ich darauf warte, dass sich das

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