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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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an dem Umschlag hängen, ich steige aus dem Bett und hebe es auf. Es steht etwas darin. Eine Geschichte. In meiner Handschrift. Wie ist das möglich? Ich kann mich nicht erinnern, irgendetwas geschrieben zu haben.
    Nur eine einzige Lampe brennt in dem weitläufigen Großraumbüro der Werbeagentur …
Bevor ich weiterlesen kann, klopft es an meiner Tür.
    Es ist Lina.
    Lina ist meine Schwester, sie ist neun Jahre alt und stumm. Nicht von Geburt an, sondern seit dem 2 . Juli vor zwei Jahren, als sich um halb zwei Uhr nachmittags ein Mann aus dem siebten Stock eines Wohnhauses stürzte und sein Körper auf dem Boden zerschmetterte. Lina kam wenige Minuten später mit Jenna hinzu. Sie konnte gerade noch das seltsam unversehrt gebliebene Gesicht des Mannes sehen, bevor sich ein dunkler Plastiksack über ihm schloss. Es war das Gesicht ihres Vaters (und logischerweise auch des Vaters von Evan).
    Ich glaube, es gibt keine Worte, um auszudrücken, was sie empfunden hat. Wahrscheinlich ist sie derselben Meinung und hat beschlossen, nicht einmal nach welchen zu suchen. An dem Tag, an dem ihr Vater starb, hörte sie auf zu sprechen. Seitdem ist sie stumm, obwohl diverse medizinische Koryphäen, Priester und sogar Esoteriker, die die arme Jenna hinzugezogen hat, auf jede erdenkliche Art versucht haben, sie von etwas anderem zu überzeugen.
    Sie teilt sich durch Blicke mit und zeichnet. An ihre Stimme haben wir nur noch ein paar Erinnerungen auf Urlaubsfilmen. Auch ihr Vater ist auf diesen Filmen.
    Nach seinem Tod leitete die Polizei eine kurze Ermittlung ein, für die ein Polizeibeamter namens Sarl verantwortlich war, der damals bei uns ein und aus ging. Man kam zu dem Schluss, dass der Vater von Evan und Lina Selbstmord begangen hatte, und entschied, aus Rücksicht auf meine Geschwister nicht mehr über die Angelegenheit zu sprechen.
    Was Evan angeht, so glaube ich, dass er seinen Vater von der mageren Liste der Menschen, die er mag, gestrichen hat – in dem Moment, als er ihn auf eine Weise verlor, die seiner Ansicht nach nur zu einem elenden Feigling passt. Er war damals noch ein Kind, aber seit jenem Tag hängt eine Zigarettenpackung der Marke, die sein Vater geraucht hat, von einem Nagel durchbohrt an der Wand neben seinem Bett. Er will nicht vergessen, oder er braucht einfach ein Objekt, auf das er seinen ganzen Hass fokussieren kann, jeden Abend vor dem Einschlafen und jeden Morgen beim Aufwachen.
    »Was gibt es, Kleine?«
    Lina streckt mir ihre zur Faust geschlossene Hand entgegen. Dann macht sie sie auf. Auf der Handfläche liegt ihr Glücksbringer, ein goldener Anhänger in Form einer kleinen Glocke. Unsere Großmutter, Jennas Mutter, hat sie ihr zur Geburt geschenkt und gesagt, sie würde sie beschützen und vor falschen Entscheidungen bewahren. Sie trägt sie immer an einem Armband am linken Handgelenk.
    Ich blicke in ihre großen dunklen Augen und sehe nichts als ein vorzeitig gealtertes Kind, das zu enttäuscht vom Leben ist, um ihm weitere Irrtümer zuzugestehen.
    Wie hat sie herausbekommen, dass heute ein besonderer Tag ist?
    Ich weiß es nicht. Die Macht des Schweigens vielleicht.
    »Bist du sicher, dass du ihn nicht behalten willst? Es ist doch dein Glücksbringer.«
    Lina schüttelt ihren kleinen, kastanienbraunen Kopf.
    »Na dann, danke.«
    Ich nehme das Geschenk an und verschließe es in meiner Faust, wohl wissend, dass auch das unser Geheimnis bleiben wird. Lina verschwindet im Flur, ich mache meine Tür wieder zu und ziehe mich an. Ehe ich aus dem Haus gehe, lasse ich den Anhänger in meine Jackentasche gleiten.
     
    Der Tag vergeht wie tausend andere, schmerzlos, aber schneller als sonst. Der langweilige Schultag, die immer gleichen Gesichter und der immer gleiche Unterricht sind heute leichter zu ertragen, weil wir ein Ziel vor Augen haben. Das Ziel heißt, den zu bestrafen, der es verdient hat. Adam.
    Wir haben jede Einzelheit bedacht.
    Adam geht jeden Abend joggen. Oft im Kleinen Park, nicht weit von der Schule, oder am Fluss entlang. Kurz vorm Alten Hafen gibt es eine Reihe von Treppen, die von der Hauptstraße hinunter zu einem Uferdamm führen, auf dem nie viel los ist, weil hier oft Überschwemmung herrscht. Der Weg ist ziemlich lang und eben, weshalb sich tagsüber der eine oder andere dorthin wagt, um zu joggen oder den Hund auszuführen, doch bei Einbruch der Dunkelheit wird er zum Reich der Gangs: Skateboarder gegen Skater, Skater gegen Parkourer. Jeder hat sein Territorium, jeder seine

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