Nacht
Albino, mit weißen Haaren und sehr heller Haut. Sein Alter ist undefinierbar, und es heißt, er hätte rote Augen wie die Geschöpfe der Nacht, aber das ist schwer nachzuprüfen, weil er auch im Klassenzimmer immer eine dunkle Brille trägt. Er redet wenig und nie Überflüssiges. Seine Stimme ist tief, rauchig und beinah sinnlich. Seine Haut riecht ungewöhnlich, nach Vanille, ganz anders als das ekelerregende Gemisch aus würzigen Aftershaves, das in den Fluren hängt.
Ich kenne Mädchen, die dafür sterben würden, mit ihm ins Bett zu gehen. Doch Professor K. scheint unempfänglich für jede Versuchung zu sein. Manchmal kommt es mir so vor, als würde er mich durch seine dunklen Gläser hindurch mustern, und dann halte ich seinem Blick stand, bis der Eindruck verschwindet. Das ist nicht unangenehm. Denn welche Farbe seine Augen auch haben mögen, ich glaube nicht, dass sein Blick schmierig ist wie der von Ian. Er scheint mich eher forschend anzusehen, aber um mich zu verstehen, nicht, um über mich zu urteilen. Auf dieselbe Art, wie ich Agatha angesehen habe, als sie das Hinterrad ihres Fahrrads mit dem Hammer zertrümmerte, um die vierte Prüfung für die Taufe zu bestehen. Er macht mich ein bisschen verlegen, aber sein tadelloses Verhalten lässt keinen Raum für Zweifel: Professor K. ist ein anständiger Mensch. Ein faszinierender und sehr intelligenter Mann.
Durch seine Gegenwart bekommen die hier drin zugebrachten Stunden etwas mehr Sinn.
Meine Bank steht in der fünften Reihe, und das bedeutet zweierlei: Das Erste und Wichtigste ist, dass die Lehrer mich für eine »fleißige« Schülerin halten und mich daher nicht auf einen der Plätze direkt vor dem Lehrerpult gesetzt haben. Denn dort sind die Hitzköpfe einquartiert, die noch nicht kapiert haben, dass es nutzlos und sogar kontraproduktiv ist, in der Klasse aufzufallen. Ob du tough bist, erweist sich erst außerhalb dieser Mauern, wo niemand dich beschützt oder dir sagt, wie du dich verhalten sollst. Wo es heißt, du gegen die Welt. Das Zweite ist, dass ich von meinem Platz aus die ganze Klasse im Blick habe. Ich sehe die beiden Nullen in der vierten Reihe, die ihre Zeit damit verbringen, imaginäre Fußballmannschaften aufzustellen, auf die sie dann ihr Taschengeld verwetten. Ich sehe das Mädchen in der sechsten, dessen Namen ich mir immer noch nicht merken kann und das immer brav mitschreibt, wobei es Stifte in unterschiedlichen Farben benutzt. Was nützen dir all die Farben? Es ist alles graue Theorie, was du da schreibst, Mädchen. Alles grau. Und wenn sie von einem Lehrer etwas gefragt wird, bleibt sie auch tatsächlich stumm. Rechts von mir sitzen die »Täschchen«, wie sie die Kunstlehrerin nennt: vier ebenso hübsche wie schwachsinnige Mädchen, die das Klassenzimmer mit dem heimischen Wohnzimmer verwechseln. Sie ziehen sich an wie Popstars, reden nur über Markenklamotten, die sie sich nie leisten könnten, und schicken den Jungs Zettelchen mit ellenlangen Nachrichten voller abgeschmackter Herzchen. Die Jungen in meiner Klasse sitzen alle in den vorderen beiden Reihen. Zwei Schwarze. Ein Asiat. Ein Blonder. Und ein fünfter, der, seit ich ihn kenne, noch nie sein Basecap abgenommen hat. Wenn sie vorbeigehen, kann man die dicken Ketten hören, die sie um den Hals tragen. Wir reden nur in Einsilbern miteinander. Die längsten Worte sind Beleidigungen. Das sollen die Säulen der Zukunft sein?
Die Wahrheit ist, dass ich von menschlichen Robotern umgeben bin, die sich ununterbrochen nach einem vorgegebenen Programm bewegen und unterhalten. Was für ein sinnloses Leben.
Der erste Lehrer des Vormittags ist hereingekommen, sein Fach ist Mathematik.
Er hat gerötete Augen und bläuliche Tränensäcke, wie jemand, der die vergangenen achtzehn Stunden vor einem Bildschirm gehockt hat. Jetzt wird er sich gleich umdrehen und Zahlenreihen an die Tafel schreiben. Wir werden ihm während der ersten zwei Minuten folgen, dann wird jeder bei irgendeiner Zahl aufgeben und sich darauf beschränken, mit Ja zu antworten, wenn der Lehrer sich zufrieden vor der vollgeschriebenen Tafel umwendet und fragt: »Habt ihr das verstanden?«
Vielleicht ist er es, der nichts verstanden hat.
Als es klingelt, öffnen Naomi, Seline, Agatha und ich unsere Regenschirme. Wozu soll eigentlich dieses ganze Wasser gut sein?
»Guck mal, da ist Morgan«, sagt Naomi und stößt mich an.
Ich werfe einen Blick zum Schultor.
Ich sehe ihn. Er lehnt an einem der beiden
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