Nacht
Und Naomi, temperamentvoll, aber ausgeglichen, gehört zu denen, die immer sagen, was sie denken. Die drei warten auf mich in der Klasse, wie jeden Morgen. Unser Verhältnis ist ganz einfach: Sie haben beschlossen, dass ich der Kopf des Ganzen bin. Ich ziehe diesen Ausdruck vor, denn »Anführerin« bedeutet, dass man Befehle gibt und einer Gruppe vorsteht, was bei mir nicht der Fall ist. Sie sind es, die mir folgen, weil sie allem vertrauen, was ich tue oder sage. Das ist ihre Entscheidung, nicht meine. Und es ist das Potenzial unserer Freundschaft.
»Hallo, Mädels«, begrüße ich sie, ohne auch nur einen Muskel meines Gesichts zu bewegen.
Manche behaupten, ich sei kalt. Vielleicht stimmt das. Aber seine Emotionen sparsam zu bemessen, ist eine Notwendigkeit, ja sogar eine Pflicht: Lächeln und Tränen können sehr gefährlich werden, wenn man sie nicht unter Kontrolle hat. Man darf sie nur wohldosiert einsetzen, damit nicht irgendein Schwein sich das gegen einen zunutze macht.
»Wie viele Taufen haben wir heute?«, frage ich und stelle meinen Rucksack auf der Bank ab.
Wir tun nichts Böses. Es sind vor allem Mädchen aus den unteren Klassen, die uns darum bitten. Nachdem sie einen offiziellen Antrag gestellt haben, prüfen wir sie. Wenn sie die Taufe wollen, was letztendlich unsere Freundschaft bedeutet, müssen sie vier Proben bestehen: eine Nacht allein außer Haus verbringen; etwas in einem Laden klauen; eine Person unserer Wahl dazu bringen, etwas (und zwar was auch immer) zu tun; und vor unseren Augen etwas vernichten, an dem sie sehr hängen.
Wenn sie das schaffen, und wenn sie es gut machen, taufen wir sie. Damit werden sie automatisch unserer Freundschaft würdig. Denn das bedeutet Freundschaft: Respekt und Vertrauen. Keine Cliquen. Keine Anführer. Keine Hierarchie. Sondern frei wählen, wem man sich anschließt.
»Ich glaube, es ist besser, die Taufen zu verschieben«, sagt Naomi.
»Warum?«
»Wir haben ein Problem.«
»Was für ein Problem?«
Ich sehe ihr ins Gesicht.
»Das hier.«
Naomi zeigt mir das Display ihres Handys.
Ich reiße die Augen auf. Der halbnackte Körper eines Mädchens ist zu sehen. Von hinten. Es ist Seline.
»Sagt, dass das nicht wahr ist …«
»Leider doch.«
Seline schüttelt ihren blonden Pferdeschwanz.
»Das war er! Dieser Scheißkerl!«, schreit Naomi fast, außer sich.
»Wir müssen etwas unternehmen«, flüstert Agatha mit einer eisigen Ruhe, die ansteckend wirkt.
Sie will eine exemplarische Bestrafung.
Ich sehe sie an. Nicke. Er, der Scheißkerl, heißt Adam, und ist zweifellos einer von den gutaussehenden Arschlöchern an dieser Schule. Einer, von dem eine Reihe mehr oder weniger großer Heldentaten bekannt sind. Er ist schon länger um Seline herumgeschwirrt, angezogen von ihren weichen Kurven und ihrer Freundlichkeit. Das hat er richtig eingeschätzt. Seline ist echt nett, was selten und vor allem gefährlich ist. Naomi hatte sie gewarnt. Aber Adam hat es geschickt angestellt. Er hat ihr nach allen Regeln der Kunst den Hof gemacht, ihr sogar einen Strauß weiße Rosen geschickt. Keine Ahnung, wovon er die gekauft hat. Rosen sind teuer. Adam kommt bestimmt nicht aus einer reichen Familie, hat aber immer Geld in der Tasche. Und Seline hat sich darauf eingelassen, ist weich geworden. Uns hatte sie versichert, dass sie mit ihm nie bis zum Äußersten gehen würde.
Und jetzt das …
»Ich hab’s dir ja gesagt«, entfährt es mir. »Wer mit dem Feuer spielt, verbrennt sich die Finger.«
Ich reite nicht gern auf etwas herum, das offensichtlich ist, aber Seline versteht von Männern etwa so viel wie ein Kleinkind von der Hochfinanz.
»Du hattest recht«, antwortet sie, den Blick auf ihre silbernen Ballerinas gesenkt.
»Wie konnte das passieren?«
Seline sieht mich an, rot im Gesicht. Sie ist kurz davor zu weinen, beherrscht sich aber. Sie hat mich noch nie mit Tränen in den Augen erlebt und versucht, es genauso zu machen. Die Anstrengung hindert sie am Sprechen.
Naomi übernimmt das für sie. Sie berichtet, dass Adam sich in die Mädchenumkleideräume der Turnhalle eingeschlichen und Seline gefilmt hat, während sie sich nach dem Duschen anzog.
»Ich hätte nie gedacht, dass er zu so etwas fähig ist …«
Seline schluchzt jetzt.
»Sag bloß.«
Mein verächtlicher Ton wirkt wie ein Sprengsatz, der den Tränenstrom, den Seline bis zu diesem Moment zurückgehalten hat, hervorbrechen lässt.
Die Mädels bleiben eine Weile stumm und warten darauf,
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