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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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Pfeiler, die das Tor flankieren. Er ist dunkel gekleidet, wie immer, und trägt eine Mütze aus schwarzer Wolle gegen den Regen. Morgan sieht nicht nur gut aus, er hat auch dieses gewisse Etwas. Meine Freundinnen, allen voran Naomi, behaupten, dass er der ideale Typ für mich sei. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Zurzeit habe ich keinen »Idealtypen« im Sinn. Zurzeit habe ich gar nichts.
    Morgan unterhält sich gerade. Aber ich kann nicht sehen, mit wem.
    »Wartet hier auf mich.«
    Ich klappe meinen Schirm zusammen und setze eine Mütze auf, ähnlich wie die von Morgan. Den Pfützen ausweichend, überquere ich den Hof. Als ich bei ihm bin, ist er allein. Seltsam. Die Person, mit der er geredet hat, scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Er sieht mich schuldbewusst an, wie jemand, der beim Klauen erwischt wurde. Ich nutze dieses Zögern, um ihn mir genauer anzusehen. Keine Ahnung, woran es liegt – an seinem schlanken, gutgebauten Körper oder an den engelsblonden Haaren, an den blauen, beinahe violetten Augen oder dem Grübchen, das sich beim Lächeln an seinem linken Mundwinkel bildet –, aber Morgan ist zweifellos der interessanteste Junge, den ich kenne. Und ich bin sicher, auch der gefährlichste.
    »Hallo, Alma.«
    Nur zwei Worte, und seine ganze Unsicherheit ist verschwunden. Ich fühle mich überrumpelt, jetzt bin ich es, die aus dem Konzept gebracht ist. Aber ich senke den Blick nicht.
    Es ist merkwürdig. Normalerweise kann ich mich in andere Leute hineinversetzen, erkenne ihre Absichten und komme ihnen zuvor, immer schlagfertig. Aber bei ihm ist das anders. Manchmal ist er mir seltsam nahe, aber seine Gedanken entziehen sich mir immer wieder. Wenn wir miteinander reden, dann nur mit verdeckten Karten.
    »Hallo, Morgan.«
    »Willst du zu mir?«
    »Nein, zu Adam. Ich dachte, du hättest mit ihm geredet.«
    Ich gratuliere mir zu meinem Improvisationstalent.
    »Ich habe mit niemandem geredet.«
    Seine Stimme klingt ruhig und gelassen.
    Aber ich bin sicher, dass vorhin jemand bei ihm stand, halb hinterm Tor verborgen. Warum lügt er?
    »Du hast recht. Du hast nicht einfach nur geredet. Du hast
diskutiert.
«
    »Du irrst dich, Alma.«
    Er spricht meinen Namen sehr betont aus. Als würde er mir so etwas mitteilen wollen. Aber ich weiß nicht, ob es eine Drohung oder ein Rat sein soll.
    Ich deute ein Lächeln an, halb ironisch und halb amüsiert. Dann stelle ich mich auf die Zehenspitzen und streife sein Ohr mit meinen Lippen, ganz langsam. Alles für meine Freundinnen, die mich beobachten.
    »Dann entschuldige, Morgan«, flüstere ich.
    Ich atme den körperwarmen Geruch seiner Haut. Er riecht nach nichts.
    Morgan bleibt unbeweglich stehen und verzieht keine Miene. Plötzlich dreht er sich abrupt zu mir um, und wir stehen uns direkt gegenüber, meine Nase nur wenige Millimeter von seiner entfernt. Die Spannung zwischen uns steigt sofort an, als wäre da keine Luft mehr, die uns trennt. Aber auch der Regen steigert sich, wird dichter und heftiger und rüttelt uns auf. Instinktiv halten wir die Hände über den Kopf und sehen uns nach einem Unterschlupf um.
    Die Mädels stehen immer noch in der Nähe des Eingangs und warten auf mich.
    »Tschüss.«
    Ich gehe davon, ohne ihn noch einmal anzusehen, aber ich spüre seinen Blick in meinem Rücken.
    »Tschüss«, ruft er und klingt belustigt, als wollte er sagen: »Wir sehen uns früher wieder, als du denkst.«
    Es gießt um mich herum wie aus Eimern. Beim Rennen peitsche ich Wasserfontänen auf, meine Stiefel platschen durch die Pfützen.
    »Was gibt’s?«, fragt mich Naomi, sobald ich bei ihr bin.
    »Nichts Interessantes.«
    Ich habe keine Lust, etwas zu erzählen.
    Im Grunde sind es auch nur so Gefühle.
    Und außerdem meine.

[home]
    Kapitel 4
    N
ur eine einzige Lampe brennt in dem weitläufigen Großraumbüro der Werbeagentur.
    Es ist die auf dem Tisch von Alek, der noch an dem Storyboard für eine wichtige Kampagne arbeitet. Werbung für ein neues Luxusjacht-Modell.
    Es ist nach zwei Uhr morgens, und um ihn herum herrscht absolute Stille.
    Alek ist es noch nie schwergefallen, bis in die frühen Morgenstunden im Büro zu bleiben. Anfangs fand er das sogar richtig beflügelnd – die ganze Agentur zu seiner Verfügung. Aber in letzter Zeit verspürt er immer öfter eine leichte Unruhe, wenn seine Kollegen nacheinander nach Hause gehen, wenn er sieht, wie die Schreibtische sich leeren, die Lichter ausgehen, die Stimmen in den Fluren verhallen und schließlich

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