Nacht
dich erinnern kannst?«
»Wir sind in eine Bar gegangen. In der Nähe des Flusses. Ich könnte dir noch nicht mal sagen, wie sie hieß. Ich bin aus Titos Auto gestiegen und habe die Straße überquert.«
»Und dann?«
Naomi macht die Augen auf. »Und dann habe ich dich angerufen.«
»Normal ist das nicht, weißt du?«
»Ich weiß. Wenn meine Eltern das erfahren … die bringen mich um.«
»Wir haben niemandem was gesagt. Deine Mutter denkt, dass du bei mir übernachtet hast.«
»Danke.«
»Also sieh zu, dass niemand diese Male an deinem Hals bemerkt, sonst kriege ich auch noch Ärger.«
»Danke, Alma.«
»Das ist noch nicht alles. Morgen rufen wir bei einem Arzt an.«
»Einem Arzt? Wozu denn? Ich … mir geht’s jetzt wieder gut.«
Ich frisiere sie fertig. Sie könnte aus einem dieser topmodischen Fashionsalons kommen. Und genau das wird sie zu Hause erzählen.
Fashion.
Kein deprimierender Großstadthorror.
»Er heißt Doktor Mahl. Ich kenne ihn.«
»Er ist doch nicht etwa ein Psycho?«
Ich nicke.
»Nein, Alma, ich bitte dich …«
Sie ist zu schwach, um ernsthaft zu widersprechen. Ich umfasse mit festem Griff ihr Handgelenk und zwinge sie, sitzen zu bleiben.
»Ich will nur sichergehen, dass du wieder ganz in Ordnung kommst, Naomi. Der Klinikarzt, der dich gestern Morgen behandelt hat, hat uns empfohlen, dich zu ihm zu bringen, und das werden wir tun.«
»Wer wir? Wer weiß denn noch davon?«
»Nur Morgan. Er war es, der uns zur Notaufnahme gefahren hat.«
Sie schüttelt den Kopf, niedergeschlagen. »Es geht mir gut, Alma. Sie haben mich … ich weiß nicht, vielleicht habe ich zu viel getrunken … es heißt, das kann passieren, wenn man zu viel trinkt. Das ist alles. Ich habe einfach nur die letzten Stunden des Abends gelöscht, Filmriss.«
»Naomi, der Arzt gestern hat mir gesagt, dass er Nadeleinstiche an deinem rechten Fußknöchel gefunden hat. Er fürchtet, dass man dir Drogen gespritzt hat.«
Naomi sieht mich mit großen Augen ungläubig an. »Denkst du etwa, Tito hätte mir so was Schreckliches angetan?«
»Wenn ihm so viel an dir liegt, wo ist er dann jetzt? Warum ist er nicht hier bei dir, um dich nach Hause zu bringen und dir bei deinen Eltern Rückendeckung zu geben?«
Naomi antwortet nicht.
»Wohin ist er verschwunden, dein Traumprinz?«
»Alma, ich …«
Sie versucht, aufzustehen, aber ich hindere sie erneut daran. »Du musst jetzt tun, was ich dir sage, Naomi. Du gehst von hier, zusammen mit mir und Morgan, sofort nach Hause. Du rufst Tito nicht an, unter keinen Umständen. Und falls er dich anruft, sagst du mir Bescheid. Hast du verstanden?«
Schweigen.
»Du sagst mir sofort Bescheid«, bleue ich ihr ein. »Versteck diese Brandwunden an deinem Hals vor deinen Eltern, und morgen mache ich dir einen Termin bei Doktor Mahl.«
»Ich will nicht zu einem Seelenklempner.«
»Ich war auch bei ihm. Nach meinem Unfall. Ich war bei demselben Seelenklempner. Ich habe versucht, mich zu weigern, aber Jenna hat darauf bestanden. Und es hat mir geholfen.«
Naomi nickt.
»Nur ein paar Mal, das reicht. Er ist ziemlich in Ordnung. Er kann dir helfen, dich zu erinnern.«
»Und wenn ich mich nicht erinnern will?«
Sie sieht mich mit Augen an, die nicht wiederzuerkennen sind. Das mutige, entschlossene Mädchen, das ich kannte, ist durch eine blasse Kopie ersetzt worden.
»Naomi, hör mir zu. Es ist vollkommen normal, dass du dich jetzt nicht erinnern willst. Das ist völlig okay. Aber … ganz in Ruhe und mit aller Zeit der Welt werden wir herausfinden, wer dir das angetan hat. Und wenn wir es herausgefunden haben …«
»Werden wir dasselbe mit ihm machen wie mit Adam?«, flüstert sie und tritt mit den Füßen auf ihren abgeschnittenen Haaren herum.
»Falls es nötig ist, ja«, antworte ich. »Auch du wirst deine Gerechtigkeit bekommen.«
»Und was soll ich damit, mit der Gerechtigkeit? Seline hat aufgehört zu essen, seit sie Gerechtigkeit bekommen hat.«
»Du bist nicht Seline.«
Naomi presst ihren Kopf zwischen die Hände. Ich kehre die Haare zu einem Haufen zusammen und bleibe vor dem Spiegel stehen.
»Ich will nach Hause«, sagt sie mit schwacher Stimme.
»Nur, wenn du mir versprichst, zu diesem Arzt zu gehen.«
»Okay«, nickt sie. »Ich gehe hin.«
»Und mich anzurufen, wenn Tito wieder auftaucht.«
[home]
Kapitel 30
N aomi wohnt im siebten Stock eines anonymen Mietshauses in der Nähe des Bahnhofs. Es ist ein Neubauviertel, ein Ensemble gleich hoher,
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