Nacht
Er sagt, es sei wichtig, dass Naomi eine Bezugsperson habe, der sie sich während der Therapie anvertrauen kann. Und dass ich diese Person sein könne. Ich darf mich nicht rühren und darf kein Wort sagen. Das ist kein Problem für mich. Im Gegenteil, eingelullt vom Rhythmus seiner Worte, habe ich Mühe, nicht ebenfalls einzuschlafen.
»Naomi, ich halte deine Hand. Spürst du das?«, sagt Doktor Mahl.
Sie nickt und murmelt etwas.
»Wir gehen zusammen irgendwohin. Wohin führst du mich?«
»Auf die P-Party …«
»Wessen Party?«
»Da … da ist eine Bar.«
»Wer ist bei dir?«
»Tito.«
»Und wer ist Tito?«
»Ein Freund von mir.«
»Ist er nur ein Freund?«
Naomi schüttelt den Kopf.
»Ist er dein neuer Freund?«
Sie schüttelt den Kopf noch heftiger.
»Gut. Gehen wir also. Wir betreten die Bar.«
Naomi zittert.
»Es ist kalt heute Abend, stimmt’s?«
Sie nickt, ohne mit dem Zittern aufzuhören.
»Zieh meine Jacke an. Dann wird dir wärmer.«
Naomi entspannt sich, und das Zittern hört auf.
»Jetzt verlassen wir die Bar … wohin gehen wir?«
»Party.«
»Wir sind auf der Party angekommen. Gefällt es dir hier?«
Naomi nickt.
»Möchtest du etwas trinken?«
»Ti … to.«
»Tito bringt dir was zu trinken?«
Naomi nickt.
»Was bringt er dir?«
»Gin T-Tonic.«
»Wie viele?«
Naomi hebt ihre gespreizte Hand.
»Fünf Gin Tonic. Trinkst du sie alle?«
Naomi schüttelt den Kopf.
»Wie viele trinkst du?«
Sie hebt zwei Finger.
Gut, denke ich. So naiv ist sie also nicht.
»Sind sie gut?«, fährt der Doktor fort.
Sie schüttelt wieder den Kopf.
»Dreht sich alles um dich herum?«
Naomi bleibt ernst. Dann fängt sie an, sich hin und her zu werfen.
»Nein! Nein! Nein!«, schreit sie wiederholt und beginnt von neuem zu zittern.
»Ist dir wieder kalt?«
»Nein! Nicht die Nadel!«
»Jemand hat eine Spritze?«
Sie nickt.
»Meine Kleider!«
»Was passiert mit deinen Kleidern?«
»Niiicht, meine Kleider!«
»Jemand zieht dir die Kleider aus?«
»Uhhhmmm.«
»Wer, Naomi?«
»Ahhh!«
Ich höre wie versteinert zu.
»Wer ist es?«
»Ti … to …«
»Ist er allein?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Wie viele sind es?«
Sie öffnet die Handfläche.
»Fünf.«
Naomi zuckt zurück, wie um einem Schlag auszuweichen.
»Was tun sie?«
Naomi duckt sich vor einem zweiten Schlag.
»Haben sie eine Waffe?«
Sie bewegt sich nicht.
»Eine Pistole?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Ein Messer?«
Sie schüttelt entschiedener den Kopf. Dann lässt sie plötzlich die Hand des Doktors los, hebt beide Zeigefinger und legt sie in Kreuzform übereinander.
»Es ist ein Kreuz?«
Naomi nickt.
»Sie haben dir mit einem Kruzifix weh getan?«
Sie nickt wieder und zappelt wie ein Fisch im Netz.
Was hat jetzt ein Kreuz damit zu tun?
Doktor Mahl nimmt wieder ihre Hand.
»Ahhh!«
»Was machen sie mit dir?«
»Es breeennt!«
»Zigaretten? Sie verbrennen dich, Naomi?«
Naomi brüllt. Dann fängt sie an zu weinen.
Ich sehe zu, wie sie sich krampfhaft auf der Liege windet, und verstehe, dass sie die Schmerzen von jenem Abend noch einmal empfindet. Ich stehe auf, um das Ganze zu beenden.
Doktor Mahl sieht die Bewegung aus dem Augenwinkel und bedeutet mir mit seiner freien Hand, sitzen zu bleiben. Die andere lässt Naomis Hand nicht los.
Jetzt streichelt er ihr über die verschwitzte Stirn.
»Fühlst du Hände, die dich anfassen?«
Naomi nickt.
Mir wird gleich schlecht.
»Jemand … missbraucht dich?«
Naomis Körper bebt heftig wie ein im Wind flatterndes Segel. Sie macht die Beine und die Arme breit. Lässt die Hand des Arztes nie los.
Ich leide schweigend.
Dann kauert sich Naomi langsam auf der Liege zusammen.
Wie ein Kind, das noch geboren werden muss. Das hofft, wiedergeboren zu werden. In dieser Haltung habe ich sie vor der Kirche gefunden.
Doktor Mahl streichelt ihr über die Stirn.
»Es brennt nicht mehr, Naomi. Spürst du das? Merkst du es? Es ist vorbei, es ist alles vorbei.«
Sie scheint sich ganz allmählich zu beruhigen. Dann sagt Doktor Mahl etwas, rezitiert wieder sein Mantra. Merkwürdig, in diesem Moment hat er eher etwas von einem Priester als von einem Arzt.
Er versucht, etwas auszutreiben, zu bannen.
»Es ist endlich Morgen, und du musst aufwachen«, sagt er sanft.
Naomi schlägt langsam die tränennassen Augen auf.
»Wo bin ich?«
»Du bist in meiner Praxis, Liebes.«
Mahl lächelt sie an.
»Ich muss auf die Toilette.«
»Bitte, geh nur. Hier hinaus
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