Nacht
wiederholten Geschlechtsverkehr. Mit verschiedenen Männern.«
»Niemals! Nicht Naomi!«, rufe ich.
Absurd. Naomi ist nicht so eine. Noch nie hat sie mit einem Jungen was angefangen, nur um mit ihm ins Bett zu gehen. Sie glaubt an die große Liebe. Obwohl ich ihr immer wieder sage, dass es sie nicht gibt. Unvorstellbar, dass sie sich je darauf einlassen würde, bei einer … einer regelrechten Sexorgie mitzumachen.
»Wollen Sie damit sagen, dass sie vergewaltigt wurde?«, fragt Morgan.
»Nein, es gibt keine Anzeichen von sexueller Gewalt. Es ist allerdings möglich, dass der Geschlechtsverkehr nach Verabreichung von Drogen mit halluzinogener Wirkung erfolgte.«
Der Arzt sieht müde auf seine Uhr.
»Wenn Sie keine weiteren Fragen haben – ich muss jetzt meinen Dienst zu Ende bringen.«
»Nein, es ist alles ziemlich klar. Vielen Dank, Doktor«, antwortet Morgan für uns beide.
Ich bringe kein Wort heraus. Die Gedanken überschlagen sich so schnell in meinem Kopf, dass ich sie nicht lange genug festhalten kann, um sie auszudrücken. Mein Herz schlägt heftig, und mein Atem geht mühsam.
Ich habe noch nie die Unterstützung von anderen gebraucht, aber jetzt geht es nicht ohne. Da ist etwas Böses, das um mich herum geschieht. Etwas, das ich nicht durchschaue, das mich aber zu umzingeln scheint.
Ich bin heilfroh, dass Morgan hier ist.
Es ist schon später Vormittag, als ich nach Hause komme.
Ich habe mir ein Taxi genommen, obwohl Morgan angeboten hat, mich zu fahren. Ich musste ein bisschen allein sein. In der Wohnung ist es still. Auf dem Dielentisch informiert mich eine Nachricht von Jenna, dass sie und Lina einkaufen gegangen sind. Bestimmt denkt sie, dass ich noch in meinem Zimmer liege und schlafe. Sie hat nicht nachgesehen und also nicht gemerkt, dass ich weg war. Ich wanke durch den Flur auf meine Tür zu, wie eine Marionette, deren Fäden durchgeschnitten wurden.
Eine schüchterne Sonne blinzelt hinter der dichten Wolkendecke hervor und beleuchtet durch die noch regenbespritzte Scheibe die Staubpartikel in der Luft. Sie schweben in einem ungeordneten Wirbel herum, und ich habe einen Moment lang Lust, mich ebenfalls einzureihen. Um von hier weggerissen zu werden, weit weg.
Das Bett ist noch ungemacht, wie ich es zurückgelassen habe. Mir ist, als wäre ein ganzer Tag vergangen, seit das Telefon geklingelt hat. Dabei sind es nur ein paar Stunden.
Auf dem Boden liegt alles Mögliche herum: Kleider, Zeitungen, eine Bürste. Ich klaube ein paar Sachen zusammen und verstaue sie im Schrank. Das violette Heft ist nicht mehr unter dem Berg aus Pullis, Turnschuhen und alten Sammelalben. Ich fange an, alles herauszuziehen. Der Schrankboden ist glatt und leer, keine Spur von dem Heft.
»Nein …«, murmele ich. »Bitte nicht.«
Ich spüre die Panik in mir aufsteigen wie Wasser zum Rand einer Vase. Ich sehe mich um und stolpere ein paar Schritte rückwärts zum Schreibtisch. Schiebe die Schulbücher beiseite, aber auch da ist es nicht. Ich suche jeden Winkel des mausgrauen Teppichbodens ab und muss niesen, als ich an dem Sonnenstreifen vorbeikomme. Ich knie mich hin, um unterm Bett nachzusehen. Und finde es endlich. Das Heft liegt dort, neben einem alten, seit wer weiß wie langer Zeit vergessenen Plüschhasen. Ich angele danach und lege es auf meine Knie. Allein es aufzuschlagen, macht mir Angst. An der Wölbung des Umschlags erkenne ich, dass ein Stift zwischen den Seiten liegen geblieben ist.
Kalter Schweiß bricht mir aus, als ich langsam den violetten Umschlag aufklappe.
Das Erste, was ich sehe, ist der Füller, den ich am vergangenen Nachmittag in der Schreibwarenhandlung gekauft habe. Die Nummer 11 .
Der Füller ohne Preis.
Dann sehe ich die mit zögerlicher, schräger Schrift geschriebenen Zeilen.
Die Einweihung war ein voller Erfolg. Die ganze Stadt konnte das Ergebnis seiner langjährigen Arbeit bewundern, den erfolgreichen Abschluss seines Projekts: die höchste und atemberaubendste Achterbahn, die je gebaut wurde. Zufrieden an die empfangenen Ehren denkend, verweilt Giulian noch in dem Containerbüro, das für die Bauzeit im Vergnügungspark aufgestellt wurde …
»Nein! Nein!«, schreie ich und schleudere das Heft samt Füllfederhalter von mir.
Der Alptraum hat wieder angefangen.
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Kapitel 29
E in Tag und eine Nacht sind vergangen, lang und zäh wie Winternebel. Kein Mord. Aber vielleicht ist es noch zu früh. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit. Noch eine Nacht.
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