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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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erstanden habe? Dass ein Engelmann mir das Heft verkauft hat und ich, seit ich es besitze, in übersinnlichem Kontakt mit einem diabolischen Mörder zu stehen scheine?
    Dass da offenbar jemand ist, der meine Freundinnen quält?
    Und ich folglich Gefahr laufe, verrückt zu werden oder es schon bin?
    Was kann ich ihm sagen?
    »Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, wie sich die Dinge abgespielt haben!«, rufe ich. »Es ist das reinste Chaos.«
    »Ja, ein ziemliches Chaos«, bemerkt Morgan gedankenverloren. Dann gibt er sich einen Ruck. »Gehen wir. Es wird allmählich spät.«
    Er legt zwei Münzen auf den Tresen und geht auf den Flur zu.
    Jetzt wirkt auch er sehr angespannt.
    Wir haben unseren Kaffee nicht mal angerührt.
     
    Auf der einen Seite des Krankenhausflurs liegen die Türen zu den Krankenzimmern, auf der anderen die Fenster, die alle auf einen riesigen Parkplatz hinausgehen. Wir begegnen ein paar wankenden Gestalten, die über den Flur schleichen und sich dabei an ihre Tropfapparate auf Rollen mit den durchsichtigen Drainagebeuteln voll ekelhafter roter Flüssigkeit klammern. Nie würde ich es fertigbringen, auf diese Weise vor den Augen aller umherzuschlurfen. Lieber würde ich aus dem Fenster springen. Jeder dieser armen Teufel könnte ohne weiteres sein Zimmer verlassen und sich hinunterstürzen, wenn er wollte. Das wäre ein würdigerer Abgang für unheilbar Kranke.
    Morgan geht jetzt wieder neben mir. Er hat nichts mehr gesagt, seit wir den Zeitungsbericht über den Toten von der Achterbahn gelesen haben, und mir scheint, er hat auch nicht vor zu reden. Umso besser, denn mir sind selbst die Worte ausgegangen. Ich spüre, dass er weit weg ist, verloren in seiner eigenen, fernen Welt, in der für mich kein Platz ist. Es ist ein merkwürdiges Wechselbad der Gefühle mit Morgan. Auf der einen Seite diese intensiven Momente der Nähe und des gegenseitigen Verstehens, und dann wieder diese unüberbrückbare Distanziertheit, in der die leiseste Berührung brennen würde wie Feuer.
    Wir kommen zu Zimmer Nummer 7 . Morgan zeigt darauf, bleibt aber stehen. Er hat beschlossen, draußen zu bleiben.
    »Lass dir ruhig Zeit«, sagt er. »Ich warte hier auf dich.«
    Ich gehe hinein.
    Naomi sitzt auf dem Bett, komplett angezogen und mit der Tasche in der Hand. Sie ist leichenblass und hat den verstörten Blick eines ausgesetzten Hundes.
    Ich setze ein Lächeln auf. »Hey, na, wie fühlst du dich?«
    »Weiß nicht … Alma, es tut mir leid, ich …«
    »Sag nichts. Nicht jetzt. Sag mir nur, wie es dir geht.«
    Sie legt ihre Tasche auf der Bettdecke ab. »Es kommt mir vor, als wäre das nicht ich selbst, die sich bewegt und spricht und alles, sondern jemand anders. Als würde ich mir von außen zusehen.«
    Genauso fühle ich mich, nachdem ich geschrieben habe.
    Ich bleibe ein paar Schritte vor dem Bett stehen. »Du hast einen schweren Schock erlitten. Du brauchst Ruhe.«
    Naomi antwortet nicht, sondern sieht sich um, als würde sie nach etwas suchen. Vielleicht nach einem festen Punkt, an dem sie sich festhalten kann, um aus dem Abgrund heraufzuklettern, in den sie gefallen ist. Ich habe allerdings den Eindruck, dass sie weder einen solchen Punkt noch sonst etwas erkennen kann.
    »Ich habe Make-up und eine Schere mitgebracht«, sage ich. »Komm mit.«
    Wir gehen ins Bad. Sie vermeidet es, sich im Spiegel anzusehen. Sie setzt sich auf einen Hocker und lässt sich mit fest geschlossenen Augen von mir schminken.
    Ich streiche mit den Fingern über ihre Wangen. Auf der Haut bilden sich Konstellationen von winzigen Brillanten. Ich arbeite schnell, wie eine professionelle Maskenbildnerin. Zum Glück waren die Schnitte im Gesicht nicht tief und haben nur ein paar kleine Male hinterlassen, die das Make-up gut überdeckt. Am Hals dagegen hat sie zwei große Brandflecke, die aussehen wie ein übler Hautausschlag.
    »Nimm den hier«, sage ich und gebe ihr einen fuchsiafarbenen Baumwollschal.
    Naomi legt ihn sich gleichgültig um den Hals, als wäre das wirklich nicht ihr Körper.
    Dann nehme ich die Schere zur Hand, um ihre Haare wieder in Ordnung zu bringen. Ich versuche, sie so gleichmäßig zu schneiden, wie ich kann. An einigen Stellen scheint die Kopfhaut hindurch, weiß und mitleiderregend. Naomi hält die Augen geschlossen und lässt mich machen.
    »Erinnerst du dich immer noch an nichts?«, frage ich, während ich weiterschnippele.
    »Nein. In meinem Kopf herrscht absolute Leere.«
    »Und was ist das Letzte, an das du

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