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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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Und wieder ein neuer Tag. Heute wird Naomi entlassen.
    Ich stehe vorm Krankenhaus, zusammen mit Morgan.
    »Wollen wir einen Kaffee trinken gehen, bis sie uns reinlassen?«, schlägt er vor.
    Es ist zehn vor eins, um eins beginnt die Besuchszeit.
    »Den kann ich wirklich gebrauchen, danke.«
    Eigentlich hatte ich ihm gesagt, dass ich nicht will, dass er mitkommt, um Naomi abzuholen. Aber er hat darauf bestanden, und ich habe nachgegeben. Im Grunde kann er die Rolle des Bruders ruhig weiterspielen. Außerdem gibt mir seine Gegenwart Sicherheit.
    Wir gehen dicht nebeneinander durch den Korridor, der von der Notaufnahme zum Haupteingang des Krankenhauses führt. Bei jedem Schritt fürchte ich, Jenna zu begegnen, die nichts von alldem weiß. Keine Ahnung, ob sie schon zu Hause ist. Ich hoffe nur, dass mir die tausend Fragen erspart bleiben, die sie mir stellen würde, wenn ich ihr hier mit einem Jungen begegne, den sie nicht kennt.
    Ohne Zwischenfälle gelangen wir zur Cafeteria.
    Auf dem Tresen gibt es Gebäck und Sandwiches aller Art, aber wir beschränken uns beide auf einen Kaffee. Keiner von uns scheint Appetit zu haben.
    In der Ecke steht ein Zeitungsständer. Automatisch gehe ich darauf zu, wie magnetisch angezogen von den schwarzen Schlagzeilen.
    »Wo willst du hin?«
    »Ich hole eine Zeitung.«
    »Lass es lieber«, versucht Morgan, mich zurückzuhalten, »die berichten eh nur von Katastrophen und Leuten, die sich gegenseitig umbringen.«
    Umbringen, genau. Mit einem flauen Gefühl im Magen denke ich an die wenigen Sätze, die ich in dieses verdammte Heft geschrieben habe, und höre nicht mehr, was Morgan sagt.
    Ich nehme ein Exemplar der Lokalzeitung. Starre auf das Foto der Titelseite, hoffe immer noch, mich zu irren. Doch da ist er. Der Vergnügungspark. Mit dieser verfluchten Achterbahn. Und einer Überschrift, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt: »Letzte Todeskurve für jungen Ingenieur.«
    Ich weiß bereits, wie er heißt. Ich habe seinen Namen geschrieben: Giulian.
    Meine Hände zittern. Ich schlage die Zeitung auf. Auf der dritten Seite ist ein weiteres Foto abgedruckt, das keinen Zweifel zulässt: Die Leiche eines Mannes mit einer Schlinge um den Hals baumelt von der höchsten Stelle des Loopings wie das Pendel einer riesigen Wanduhr.
    Es ist entsetzlich. Noch entsetzlicher als der erste Mord. Und es hat etwas Surreales.
    Morgan blickt über meine Schulter auf die Zeitung.
    »Wie hat er das nur geschafft?«, fragt er.
    »Was?«
    »Dieser Looping ist praktisch unerreichbar! Wie konnte er sich dort ganz oben aufhängen?«
    Auch der gekreuzigte Alek wurde hoch oben aufgehängt. Auch in seinem Fall hat man sich gefragt, wie das möglich war. Makabre Übereinstimmungen. Ausgeburten eines kranken Geistes, der durch Angst und Schrecken Chaos verbreiten will.
    »Er hat sich nicht erhängt.«
    »Da steht: ›Das Motiv für den Selbstmord ist bislang nicht bekannt …‹«
    Morgan liest den Bericht mit mir zusammen. Irgendwie scheint er seine eigene Theorie über den Hergang dieses Todes zu haben. Unterdessen werden unsere Kaffees auf dem Tresen kalt.
     
    Dem Artikel zufolge geht die Polizei von Selbsttötung aus, weil nach einer ersten Untersuchung keine Spuren von Gewalteinwirkung an der Leiche gefunden wurden. Die verzweifelte Frau des jungen Ingenieurs, die gerade ihr zweites Kind erwartet, spricht von ihrem Mann als einem heiteren, glücklichen Menschen, der sich nie und nimmer umgebracht hätte.
    Das ergibt einfach keinen Sinn. Ein Mann, der gerade wieder Vater wird, nimmt sich das Leben, noch dazu am Abend eines wichtigen beruflichen Erfolgs. Hier stimmt etwas nicht. Das ist wieder so ein schrecklicher Mord, den ich geträumt und beschrieben habe.
    »Du siehst bedrückt aus.«
    Ich falte die Zeitung zusammen und versuche, meinen Schock zu verbergen.
    »Zuerst der Werbemensch, jetzt dieser Ingenieur. Da gibt es jemanden in der Stadt, der keinen neuen Vergnügungspark will.«
    »Was gar nicht so verwunderlich wäre. Wer weiß, welche Interessen dahinterstecken. Politik. Bestechung. Schmutziges Geld«, sagt er, wirkt aber selbst nicht sehr überzeugt.
    Und mein violettes Heft, wie kommt das ins Spiel?
    »Ich weiß nicht …«, murmele ich. »Aber es ist, als ob …«
    Was kann ich ihm sagen? Dass ich beide Morde »vorausgeahnt« und sie auf unerklärliche Weise nachts aufgeschrieben habe, wie eine Schlafwandlerin? In einem violetten Heft, das ich in einem Schreibwarenladen in der Innenstadt

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