Nacht
einheitlich blassgelber Häuser, mit schmalen Alleen dazwischen, auf denen kleine, rundköpfige Bäume wachsen. Hier schlängelt sich der städtische Radweg hindurch, entknotet und verknotet sich zwischen einem Wohnblock und dem nächsten, ohne dass er von irgendwem genutzt wird.
Glücklicherweise stellt uns das Nachhausekommen vor weniger Probleme als befürchtet. Nur Naomis Schwester und Mutter sind da, sie eilen uns sofort entgegen. Die Mutter sieht sehr besorgt aus, einige Falten um die Augen und auf der Stirn künden von wenig Schlaf und der bevorstehenden, unvermeidlichen Strafpredigt. Marti, die Schwester, wartet geduldig neben der Mutter, bereit, Naomi beizustehen.
Schöne Sache, Solidarität unter Geschwistern.
Die Frau baut sich mit ihrer zierlichen Figur und einem bohrenden Blick vor uns auf. Sie hat kurze Haare wie Naomi und scheint überhaupt deren komprimierte Version zu sein. Marti dagegen sieht total anders aus: Sie hat lange, glatte, kastanienbraune Haare und lebhafte Rehaugen.
»Darf man mal erfahren, wo du gewesen bist?«, fragt die Mutter streng.
Naomi schweigt. Ich weiß, dass sie nicht antworten kann, selbst wenn sie wollte, also tue ich es für sie.
»Wir waren auf einer Party, und es ist spät geworden, deshalb hat Naomi noch mal bei mir übernachtet.«
»Und du, warum sagst du nichts?«, forscht die Mutter weiter. »Hast du die Sprache verloren?«
Naomi bleibt stumm. Ich hoffe, sie schafft es, ihre Rolle durchzuhalten.
»Also wirklich, Naomi! Du hättest anrufen und uns Bescheid sagen können. Das ist kein Benehmen.«
»Es tut uns sehr leid. Es wird nicht wieder vorkommen. Stimmt’s, Naomi?«
Sie nickt und gibt ein mattes »Ja« von sich.
Die Mutter mustert sie zweifelnd.
»Mir reicht’s jetzt. Du wirst dich heute Abend mit deinem Vater darüber auseinandersetzen. So lange gehst du in dein Zimmer und bleibst dort, um darüber nachzudenken, was du falsch gemacht hast.«
Das kommt uns sehr entgegen.
Sie kehrt uns den Rücken zu und geht in die Küche. Marti bleibt noch einen Moment bei uns.
»Ich werde sie beruhigen, keine Sorge«, sagt sie zu Naomi.
Ich bringe Naomi in ihr Zimmer und überzeuge mich davon, dass alles in Ordnung ist.
Naomi guckt sich um, als sähe sie das alles zum ersten Mal: die Wände mit den Postern, die Möbel, ihre CDs auf der schmalen Säule aus Holz und Metall. »Ich fühle mich, als wäre ich gerade mit einem Laster zusammengestoßen«, bringt sie hervor.
Ich streichele ihr über die spärlichen Haare. Es ist unglaublich, dass ihre Mutter nichts gemerkt hat. Jenna hätte mich mit Röntgenaugen untersucht.
»Jetzt leg dich ins Bett und versuch, dich zu erholen.«
Ich lasse sachte den Rollladen herunter und helfe ihr, die Jacke auszuziehen.
»Geh nur, Alma. Ich komme schon zurecht.«
»Bist du sicher?«
Sie nickt. Es ist seltsam, sie so zerbrechlich und schutzlos zu sehen. Naomi, die Löwin.
»Also, tschüss dann. Ich ruf dich bald an.«
Mit einem Kloß im Magen und einem einzigen Gedanken im Kopf gehe ich aus dem Zimmer: Die verdammten Schweine, die ihr das angetan haben, müssen dafür büßen.
Beim Hinausgehen verabschiede ich mich von der Mutter, die gerade beim Staubwischen ist. Sie antwortet mir mit einem knappen Grunzen. Sie hält mich wohl verantwortlich für das, was passiert ist. Wenn sie wüsste …
Marti fängt mich an der Türschwelle ab. »Naomi ist so merkwürdig … Ist alles okay?«, fragt sie mich.
Sie macht sich offenbar Sorgen. Ich glaube, bei all den Partys und Festchen hat sie ihre Schwester noch nie in einem solchen Zustand nach Hause kommen sehen.
»Ich hoffe es«, sage ich.
Eine andere Antwort habe ich nicht, aber das wird sich bald ändern.
Eilig verlasse ich die Wohnung. Erst hinterher fällt mir ein, dass das eine Gelegenheit gewesen wäre, um Marti nach Einzelheiten über Morgans und Adams Begegnung im Schwimmbad auszufragen. Aber ich habe nicht den Mut, zurückzugehen.
»Wie ist es gelaufen?«, fragt Morgan, sobald ich aus der Haustür komme.
»Gut, würde ich sagen. Es war nur ihre Mutter da. Sie ist ziemlich sauer, weil wir ihr gestern Abend nicht Bescheid gesagt haben, aber … sonst alles normal.«
»Und die Wunden?«
»Sie war zu sehr damit beschäftigt, uns Vorwürfe zu machen, um sie zu bemerken.«
»Sind ihr noch nicht mal die Haare aufgefallen?«
»Nein.«
»Umso besser. Naomi muss sich scheußlich fühlen, die Arme.«
»Allerdings«, sage ich nur.
»Im Auto hat sie kein Wort
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