Nacht aus Rauch und Nebel
müssen, bevor du –«
»Ich will ihn nicht mehr, Flora. Wirklich.«
»Ja, ich weiß.« Ich massierte mit Daumen und Zeigefinger meine Nasenwurzel. »Bitte entschuldige. Was für Schwierigkeiten befürchtest du denn?«
Marian beugte sich noch ein Stück weiter vor, bis seine Stirn an meiner lag. Sein flirrendes Haar kitzelte über meine Schläfen. Der Geruch von finnischem Wald umfing mich. »Ich wollte eigentlich niemals darüber sprechen. Aber jetzt muss es doch sein.« Ich spürte seinen Atem auf meinen Lippen. »Du hattest recht: Ich habe die letzten Wochen in der Schattenwelt nicht im Haus meiner Eltern verbracht. Ich war draußen. Im Nichts. Und, was ich dort gesehen habe … Es existieren Wesen, von denen wir bisher nur sehr wenig wissen, Flora.«
»Geister«, wisperte ich. »Ich habe sie gesehen, als meine Mutter mich zum Schiff zurückbrachte. Sie haben versucht, die Energie der Nebelkönigin zu stehlen.« Ich dachte an die fratzenhaften Gesichter und ihre wehenden Finger aus Rauch und begann unwillkürlich zu frieren.
Marians Blick bohrte sich in meinen. »Eigentlich wollte ich mich zum Schlund durchschlagen, aber diese … Gespenster waren schneller. Sie kriegten mich, kurz nachdem unser Funkkontakt abgerissen war.« Seine Stimme zitterte, als er weitersprach. »Sie haben mich mit ihren knochigen Händen gepackt und ihre augenlosen Gesichter auf das Visier meines Helms gelegt. Es war grauenhaft. Zuerst wussten sie wohl nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Sie interessierten sich sehr für die Energiereserven in meinem Anzug. Allerdings schafften sie es nicht, diesen zu zerstören. Ich glaube, eine Weile überlegten sie, mich in einen ihrer Brennöfen zu werfen, aber dann entschieden sie sich doch dazu, mich mit sich zu nehmen. In ihr Reich. Vielleicht, um mich später auszusaugen.«
Ich schlang meine Arme um ihn, so fest ich konnte, und zog ihn an mich. Marians Kinn ruhte nun auf meiner Schulter, seine Hände lagen auf meinem Rücken und er klammerte sich an mich, als fürchtete er, in seinen Albtraum zurückzufallen, sobald er mich losließe.
»Was soll das heißen: ihr Reich? Was sind das für Wesen?«, murmelte ich.
»Das habe ich mich zuerst auch gefragt, aber inzwischen bin ich mir sicher: Diese Geister sind die Seelen, die das Nichts sich bereits geschnappt hat. Sie sind anscheinend dazu verdammt, wieder und wieder zu Asche zu werden und neue Energie aufzuklauben, bis sie so etwas wie eine menschliche Gestalt erreichen, nur um erneut zu verbrennen. Die Stadt zieht sie an und sie vermehren sich rasant.«
Ich fuhr mir mit der Hand durch das Gesicht. »Ich habe diese komischen Öfen gesehen.«
»Ja, und die sind nur der Anfang. Sie brachten mich in ihre Höhlen aus Nichts, die sie mit schwerem Gerät in die Fundamente Eisenheims getrieben haben. Dort haben sie bereits mit dem Bau gigantischer Hochöfen begonnen. Deshalb bricht Eisenheim nun in sich zusammen. Sie haben es untergraben, höhlen es praktisch von unten aus. Und die Gespenster lauern unter der Stadt auf die anderen Seelen, die zu ihnen in die Tiefe stürzen werden.« Marians Worte verwandelten sich in ein Krächzen. »Sie sperrten mich neben einen dieser Öfen, der Tag und Nacht Asche ausspeit. Ich musste dabei zusehen, wie sie sich einer nach dem anderen in die Flammen warfen. Doch die dabei entstehende Energie lud meinen Anzug auf und hielt mich am Leben, bis mir nach Wochen endlich die Flucht gelang. Es wird nicht mehr lange dauern, bis das Nichts uns alle zu ihresgleichen machen wird.«
Die Vorstellung, dass ich selbst und alle, die ich kannte, dieses schreckliche nächtliche Dasein fristen sollten, machte mich einen Augenblick lang sprachlos. Bisher hatte ich geglaubt, der Tod wäre das Schlimmste, was uns das Nichts würde antun können. Doch nun verstand ich: Es würde uns nicht umbringen. Was uns erwartete, war schrecklicher. Die ersten Schlafenden begannen bereits, sich auch in der realen Welt in zombiehafte Wesen zu verwandeln. Was würde das Nichts aus uns Wandernden machen, die wir mit dem Fluch leben mussten, uns an jedes Detail unserer nächtlichen Existenz zu erinnern?
Doch noch gab es Hoffnung. Noch würde ich mich mit diesem Schicksal nicht abfinden. Ich nahm Marians Gesicht zwischen meine Hände und küsste ihn. »Das dürfen wir nicht zulassen«, flüsterte ich. »Wir werden den Weißen Löwen zurückholen und alldem ein Ende setzen.« Ich tastete auf dem Fußboden nach dem Fingerknochen des Eisernen
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