Nacht aus Rauch und Nebel
Kanzlers. »Wir müssen das einfach schaffen, klar?«
Marian schloss die Augen. »Ja, das müssen wir«, sagte er. »Bloß wissen wir leider nicht, ob die Geister das Versteck des Steins nicht schon längst erreicht haben.«
23
IM REICH DER GESPENSTER
Das Nichts hatte Christabels Seele gefressen! Während ihres Mittagsschlafs. Als wir am späten Nachmittag nach Hause kamen, war sie bereits nicht mehr ansprechbar. Sie lief wie ein Zombie mit verschmiertem Lippenstift durch die Wohnung, kochte abwechselnd Tee oder führte Karatekicks gegen die Wohnzimmertür aus. Es war grauenhaft! Marian und ich bugsierten sie in den großen Ohrensessel, doch sie stand immer wieder auf. Was wir auch sagten oder taten, es drang überhaupt nicht mehr zu ihr durch.
Sobald es dunkel wurde, legten Marian und ich uns hin. Ich drückte zwei Schlaftabletten aus dem Blister und wir schluckten sie. Dann nahm ich den Finger des Eisernen Kanzlers zwischen die Lippen. Denn das hatte Arif über das Geheimnis der Transportation gesagt: Man konnte kleine Gegenstände mit nach Eisenheim nehmen, wenn man sie sich unter die Zunge legte. Einen Moment zögerte ich noch. Dieser Knochen war porös und alt und … tot! Das hier war ein Teil des Eisernen Kanzlers! Teil seiner Leiche! Aber mittlerweile überwog die Verzweiflung den Ekel. Also tat ich es: Ich steckte mir den Knochen in den Mund. Der Würgereiz ließ mich keuchen. Doch zum Glück wirkten die Tabletten schnell.
Wir schliefen ein.
Während sich Marian gemeinsam mit dem Großmeister auf den Weg in die Ruinen Notre-Dames machte, um in den Überresten des Labors nach den für das Experiment des Kanzlers notwendigen Utensilien zu suchen, begab ich mich wieder einmal in den Buckingham-Palast. Bevor ich Alexander von Berg aus seiner Villa befreien konnte, musste ich meinen Vater, der sich seit vierundzwanzig Stunden durchgängig in der Schattenwelt aufhielt, um Erlaubnis bitten. Ich hatte nämlich wenig Lust, gegen ein Dutzend Kämpfer des Grauen Bundes anzutreten, um meinen Plan in die Tat umzusetzen.
Der Schattenfürst lauschte meiner Geschichte über die Prophezeiung und die Abmachung, die ich mit meinem Erzfeind getroffen hatte, allerdings nur mit halbem Ohr. Auch er hatte inzwischen davon gehört, was mit Christabel geschehen war, und stand vollkommen neben sich. Das kleinste Geräusch ließ ihn erbleichen. Immer wieder flackerten seine Lider, als drohe er, in Ohnmacht zu fallen.
Ich entschied mich daher, die wahre Identität der Dame vorerst zu verschweigen, denn ich wollte nicht riskieren, dass er vor lauter Schreck einen Herzinfarkt bekäme. Auch was Marian mir über die Geister berichtet hatte, ließ ich aus. Mein Vater konnte die Wirklichkeit schon lange nur noch häppchenweise verkraften. Und so wie er an seinem Schreibtisch hockte und sich vor- und zurückwiegte, während ich sprach, überlegte ich bei jedem einzelnen Häppchen, ob es nicht schon zu viel für ihn war. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt verstand, was ich ihm versuchte mitzuteilen.
Erst als ich den Fingerknochen auf die Tischplatte legte, wurde sein Blick schlagartig klarer. Er straffte die Schultern.
»Das ist sein Finger?«, fragte er ungläubig. »Und darauf hat er sich eingelassen?«
Ich nickte. »Natürlich können wir ihm nicht trauen, aber wir brauchen seine Hilfe bei dieser Sache. Das ist unsere einzige Chance. Und wir müssen es gleich tun, denn wer weiß, ob morgen überhaupt noch etwas von Eisenheim übrig ist.«
Mein Vater drehte den winzigen Knochen in seinen Händen. »Wie kann ich dir helfen?«
»Bring ihn und den Kanzler in etwa drei Stunden zu den ehemaligen Pyramiden«, sagte ich. »Ich habe Sieben geschickt, um die Dame zu benachrichtigen, und der Großmeister wird für die übrigen Vorbereitungen sorgen. Marian und ich holen den Stein. Anschließend treffen wir uns alle dort.«
Behutsam verstaute mein Vater Alexander von Bergs Finger in einer Tasche seines Gewandes. »Einverstanden.«
Eine halbe Stunde später durchquerten Marian und ich die Notunterkünfte am Ufer des Hades. Viel zu viele Seelen drängten sich hier aneinander. Schlafende, Wandernde, Frauen, Männer, Kinder, untergebracht in Zelten und sogar unter freiem Himmel. Aus ihren Gesichtern sprach die Angst vor dem Nichts, und obwohl wir uns die Kapuzen unserer Umhänge tief ins Gesicht gezogen hatten, erkannten mich ein paar von ihnen und fragten, was als Nächstes geschehen würde. Doch mehr als ein vages »Ich
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