Nacht aus Rauch und Nebel
zur Treppe verborgen hatte.
Allerdings war es noch immer lediglich Ylvas Brüllen, das vom anderen Ufer zu uns herüberhallte. Ihre Monstergestalt selbst konnte ich nirgendwo entdecken. In meiner Brust bildete sich ein Knoten, das Drängen des Steins wurde wieder stärker. Ich würde ihm nicht mehr lange standhalten können. Ich tastete nach Marians Hand und drückte sie. »Wir können jetzt nicht nach ihr sehen. Wir müssen uns zuerst um Eisenheim und den Stein kümmern, okay?«
Er entzog mir seine Hand. »Ich will nur kurz nachschauen, ob es ihr gut geht«, sagte er und ließ seinen Mantel fallen, um besser auf dem schmalen Felsvorsprung balancieren zu können, der um den See herumführte.
Ich trat ihm in den Weg. »Das geht jetzt nicht.« Etwas in der Tiefe unter dem See knirschte. Stein mahlte auf Stein. Der Weiße Löwe heulte in meinen Gedanken.
Marian blähte die Nasenflügel. »Sie ist meine Schwester!« Er schob mich beiseite. Die Wasseroberfläche war in Bewegung geraten. Staub rieselte von der Decke der Grotte herab. »Hier könnte jeden Moment alles einstürzen.«
»Genau!«, schrie ich und drängte mich erneut zwischen ihn und den Felsvorsprung. In meinen Ohren gellte das Kreischen des Steins. »Das Nichts kommt! Wir müssen Eisenheim retten, sonst verlierst du Ylva so oder so! Bitte, ich brauche jetzt deine Hilfe!«
Marians Schultern bebten, sein Blick klebte noch immer am gegenüberliegenden Ufer und in seinen Augen schimmerte es verdächtig. Ich schlang meine Arme um ihn. »Ich verspreche dir, dass wir alles tun, um Ylva zu retten. Ich verspreche es. Aber zuerst brauchen wir den Stein«, rief ich und wischte ihm mit den Daumen die Tränen aus den Augenwinkeln. »Du kannst dich auf mich verlassen.«
Marian antwortete etwas, das ich nicht verstand, weil die Stimme des Weißen Löwens alles war, was ich noch hörte. Marians Kiefer mahlten aufeinander. Ruckartig wandte er sich ab und beugte sich über die Anzüge. So schnell wir konnten, zwängten wir uns hinein. Endlich stiegen wir in den lackschwarzen See.
Gemeinsam tauchten wir in die dunklen Fluten. Dabei war es gar nicht so leicht, mit dem mit Sauerstoff gefüllten Helm in die Tiefe vorzudringen. Wir mussten lange strampeln. Doch das alles registrierte ich sowieso nur noch am Rande.
In meiner Brust pulsierte die Leere, die der Weiße Löwe zurückgelassen hatte, seit wir uns getrennt hatten. Ich konnte es kaum erwarten, diese unendliche Leere wieder aufzufüllen. Und je näher ich dem Weißen Löwen kam, desto mehr von seiner Macht kehrte zu mir zurück. Ein dunkles Glühen schoss durch meine Adern und gab mir die Kraft, das Wasser hinter mir zu lassen. Ich nahm kaum wahr, wie ich in den felsigen Grund des Sees eintauchte und Marian mit mir zog. Wir schwammen durch Gestein und Sedimente, die in Millionen von Jahren aufeinandergeschichtet worden waren. Feine Adern aus Granit zogen an uns vorbei, glimmende Einschlüsse, versteinerte Insekten. Ich erinnerte mich daran, wie ich es schon einmal getan hatte, wie ich hinabgetaucht war, um den Weißen Löwen in Sicherheit zu bringen. Damals war ich kurz vor dem Ersticken gewesen, so lange hatte es gedauert, bis der Fels einer gleißenden Helligkeit gewichen war.
Dieses Mal jedoch dauerte es kaum länger als ein paar Züge, bis wir das Gestein hinter uns ließen. Und die Helligkeit war auch ein bisschen weniger weiß als beim letzten Mal, sie wirkte trübe auf mich, neblig. Schwaden umfingen uns, als wir einige Meter hinabstürzten und dann unsanft auf etwas ebenso Gräulichem landeten. Etwas, das gar nichts war. Ich war zu erschrocken, um zu schreien. Marians Befürchtung war nicht grundlos gewesen und die Anzüge hatten uns gerade das Leben gerettet. Um uns herum türmte sich in wattigen Bergen aus fehlender Materie das Nichts.
Marian fand als Erster die Sprache wieder. »Scheiße«, sagte seine Stimme tonlos in meinem Helm.
Ich quittierte es mit einem Nicken und schloss für einen Moment die Augen, um besser nachdenken zu können. Marian hatte also recht gehabt, das Nichts hatte mittlerweile vermutlich schon die ganze Stadt unterwandert. Dennoch hatte ich die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal das Gefühl gehabt, der Weiße Löwe sei dadurch ernsthaft in Gefahr geraten. Auch jetzt noch konnte ich ihn spüren, noch deutlicher hörte ich, wie er nach mir rief. Er musste also irgendwo hier unten sein. Irgendwo inmitten des Nichts. Damals hatte ich ihn in eine Art Nest gelegt, eine Vertiefung
Weitere Kostenlose Bücher