Nacht aus Rauch und Nebel
Mann in einer grünen Latzhose. Den größten Teil seines Gesichts verdeckte ein zotteliger Vollbart. Er setzte die Schubkarre voller Gartengeräte im Kies ab und schritt entschlossen auf uns zu. »Das hier ist kein Spielplatz, klar? Ihr könnt hier nicht einfach aus Langeweile randalieren«, rief er.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Marian und zog mich unauffällig ein Stück rückwärts. »Das war ein Versehen.«
»Wohl eher Sachbeschädigung«, sagte der Friedhofsgärtner und zückte sein Handy. »Die Polizei wird euch schon erklären, was das ist.«
Marian nickte. »Da bin ich sicher«, sagte er und fügte kaum hörbar ein »Jetzt« hinzu.
Während der Mann den Notruf drückte, wirbelten wir herum uns stürzten los. Eine ganze Weile rannten wir zwischen den Gräbern hindurch, bis wir irgendwann erschöpft auf eine Bank am anderen Ende des Friedhofs sanken. »Wir müssen eh in Schattengestalt in das Ding einsteigen«, keuchte Marian und stützte seinen Kopf in die Hände, als würde er nachdenken. So ließ er seinen Körper dort zurück.
Endlich entknotete sich mein Hirn. Das Loch in der Scheibe brauchten wir also bloß für den Transport des Fingers! Ich beeilte mich, meine Schattengestalt anzunehmen, und schwebte ihm nach. Schon bald erreichten wir erneut das Mausoleum der von Bergs. Der Friedhofsgärtner stand noch davor und unterhielt sich mit einem Polizisten in Uniform, der vermutlich gerade von einem der Verkehrsunfälle in der Nähe herübergekommen war.
»Sie sind irgendwo in diese Richtung gerannt«, erklärte der Gärtner. »Weit können sie noch nicht sein. Sie –« Er brach ab, als wir vorbeiflogen. Marian tauchte schon durch die Türen des Grabmals, ich wollte ihm folgen.
»Wandernde seid ihr also auch noch! Das ist wirklich eine Frechheit!«, schrie der Gärtner. »Ich werde den Schattenfürsten informieren!«
»Wie bitte?«, fragte der Polizist. »Was für ein Fürst?«
Ich drehte mich noch einmal um. »Mein Vater hat gerade echt andere Probleme, okay? Es geht hierbei zufällig um Eisenheim. Wenn Sie auch ein Wandernder sind, wissen Sie doch sicher, um wessen Grab es sich hier handelt.«
Der Gärtner strich sich über den Bart. »Natürlich weiß ich das.« Auch seine Gestalt wurde nun von einem dunklen Flirren überzogen. »Trotzdem geht es doch nicht, dass –«
»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?«, fragte der Polizist und packte den Mann am Arm. »Vielleicht wollen Sie sich einen Moment setzen und einen Schluck Wasser trinken.«
»Nein, diese Gören brechen gerade dort ein.« Er fuchtelte mit einem Spaten in meine Richtung.
Der Polizist runzelte die Stirn.
Endlich folgte ich Marian ins Innere des Grabmals. Der Gärtner war vorerst beschäftigt.
Es roch abgestanden und muffig im Innern des Mausoleums, vermutlich war seit vielen Jahren kein Familienmitglied des Kanzlers mehr hier beigesetzt worden. Staub tanzte im schummrigen Licht. Spinnweben hingen unter der Decke und wehten nun sachte im Luftzug, der durch das kaputte Fenster hereinkam. In meinem Magen breitete sich ein Prickeln aus. Es war nicht gerade höflich, die Ruhe der Toten zu stören. Ich schwebte zu Marian hinüber und legte meine Schattenhand in seine.
Wir befanden uns genau im Zentrum des achteckigen Turmes und nun verstand ich auch, welche Bewandtnis er hatte: Jede der acht Seiten beherbergte drei übereinanderliegende Nischen und in jeder von ihnen lag einer der verblichenen von Bergs beziehungsweise das, was von ihnen übrig geblieben war. Da ich bisher nur das strahlend weiße Skelett aus dem Biologieunterricht kannte, musste ich mich erst einen Moment lang an den Anblick der fleckigen, gelblich und bräunlich verfärbten Knochen gewöhnen. In den leeren Augenhöhlen lag ein unheimliches Glimmen.
»Welcher von denen ist wohl der Kanzler?«, flüsterte ich.
Marian zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich würde ja sagen, der, der so gruselig grinst, aber –«
»Das machen sie alle.« Mein Seufzen hallte von den Wänden wider. Es war so still hier drin. Viel zu still. Gänsehaut kroch meinen Rücken hinab. Dennoch näherte ich mich den Toten. Langsam schwebte ich an den Nischen entlang und besah mir jedes einzelne der vierundzwanzig Skelette. Auf den ersten Blick sahen sie alle gleich aus, doch wenn man sie ein wenig genauer betrachtete … Manche von ihnen wirkten zum Beispiel noch deutlich jünger als die anderen, weniger porös und mit besseren Zähnen. Ich nahm daher an, dass sie zu Zeiten
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