Nacht aus Rauch und Nebel
erkannte ich in dieser Nacht. So viele Jahre über war dieses Turmzimmer im Südosten Eisenheims die ganze Welt für meine schlafende Seele gewesen. Das Zimmer, die Hausdächer und das bisschen Himmel, das man durch die beiden kleinen Fenster erkennen konnte. Wohin mein Blick auch glitt, andauernd schälten sich Gedanken an längst Vergangenes aus dem Dickicht meines Bewusstseins. Es begann, kaum dass ich die Augen aufgeschlagen hatte. Ich lag in meinem Himmelbett und das Erste, was ich sah, waren die gestickten Sterne im Stoff über mir.
Ich betrachtete die silbrigen Fäden, die etwas darstellten, was ich noch niemals gesehen hatte. Denn der Himmel der Schattenwelt war immer schwarz und leer, bis auf die herabstürzenden Seelen natürlich. Ich streckte die Hände nach den merkwürdigen Gebilden über mir aus.
» Sterne, Flora« , sagte jemand irgendwo außerhalb meines Blickfeldes. Fine Frau, deren Stimme mir vertraut war.
» Terne« , wiederholte ich.
» In der echten Welt hängen sie am Himmel. Es ist das Licht von Milliarden Kilometern entfernten Sonnen, viele von ihnen existieren gar nicht mehr, wenn ihr Licht bei uns ankommt. Was wir sehen, ist längst tot. «
Ich verstand nicht, was man mir da erklärte, aber ich wollte so gerne einen der glitzernden Sterne haben! Mit meinen winzigen Fäusten versuchte ich, die Bilder unter der Decke zu umschließen. Doch es gelang mir nicht, sie waren viel zu weit weg.
Ich fing an zu weinen und schlug mit den Händen nach der Luft zwischen mir und dem bestickten Samt.
» Ist ja gut« , sagte die Frau und beugte sich über mich. Ihre Augen blitzten, als sie mich hochnahm und an sich drückte. »Auch wenn die Sterne tot sind, ihr Licht ist doch noch bei uns. «
Ich presste mein Gesicht an die Schulter der Frau und krallte mich in den Ärmel ihres Kleides.
Auch heute erfüllte mich der Anblick des Stoffhimmels mit einem Hauch von Wehmut. Obwohl man mich in diesen Mauern gefangen gehalten hatte, waren sie doch lange Zeit mein Zuhause gewesen, in dem sich meine Kinderseele sicher und geborgen gefühlt hatte. Eine Geborgenheit, die in meiner Welt nicht mehr existierte, vielleicht niemals da gewesen war?
Sterne gab es in dieser Welt jedenfalls keine, dafür jedoch ein schreckliches Nichts, das immer weiter auf Eisenheim zukroch und irgendwie mit mir und dem Weißen Löwen zusammenzuhängen schien. Ich hatte bloß noch immer keine Ahnung, wie. Zwar wusste ich inzwischen, dass es ein Gelehrter namens Desiderius gewesen war, der vor Jahren die Prophezeiung über mich und den Stein ausgesprochen hatte. Doch dieser war im Nichts verschwunden. Ob er ihm zum Opfer gefallen oder freiwillig hineingegangen war, weil er glaubte, dort Löcher zu finden, in denen wieder etwas existierte, war unklar. Konnte es überhaupt Löcher im Nichts geben? Nun gut, angenommen, das Nichts würde nicht wachsen, sondern sich auf die Stadt zubewegen … Was befand sich dann an den Stellen, von denen es sich wegbewegte? Was, wenn an diesen Orten tatsächlich wieder Leben möglich wäre? Vielleicht waren all die Menschen, die das Nichts bisher verschlungen hatte, überhaupt nicht tot, überlegte ich. Das würde zumindest die fehlenden Fernsehnachrichten in der realen Welt erklären. Oder wurde ich gerade verrückt?
Ich stützte die Ellbogen auf das Fenstersims, starrte in die Dunkelheit hinaus und grübelte über Desiderius und das Nichts. Die Zeit verging, und obwohl Geduld nicht gerade zu meinen Stärken gehörte, wartete ich wie Rapunzel auf meinen Prinzen, der mich rettete. Marian kam erst, als ich schon befürchtete, jeden Augenblick aufzuwachen. Und wie sich herausstellte, gehörte ein wenig mehr dazu, mich zu befreien, als nur ein dämliches Gitterfenster aufzubrechen. Ich erkannte es an dem Lärm, der losbrach, kaum dass eine grau gewandete Gestalt den Platz vor dem Dom betrat. Obwohl er seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte, war es ohne Zweifel Marian, der dort über das Kopfsteinpflaster hastete, seine Statur und sein Gang verrieten ihn. Anscheinend hatte der Eiserne Kanzler mein Verließ nicht unbewacht zurückgelassen. Es war mir bisher gar nicht aufgefallen, doch im Grunde hätte ich es mir denken müssen: Seine Reiter waren stets in meiner Nähe! Zuerst hörte ich das Schaben von Hufen auf dem Dach, dann das Kreischen eines Schattenpferdes, das anscheinend auf der Spitze des Turms postiert gewesen war und nun in die Tiefe rauschte.
Marian beschleunigte seinen Schritt und ich verlor
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